Zwischen den Welten
Flüchtlingszelte sehen in jedem Land der Erde gleich aus, seit 80 Jahren. Jetzt hat der Designer Daniel Kerber ein neues Zelt entwickelt. Seine Erfindung könnte das Leben von 45 Millionen Flüchtlingen verbessern – weil sie sich Menschen, Wetter und Umgebung überraschend anpasst.
Herr Kerber, Sie haben ein neues Zelt für Flüchtlingslager entwickelt. Was stimmt denn mit den bisherigen nicht?
Daniel Kerber: Flüchtlingszelte haben sich seit 80 Jahren nicht verändert. Sie bestehen aus Stangen und Zeltplanen, das war’s. Und sie sehen überall auf der Welt gleich aus, egal in welchen Klimazonen sie stehen. Ich habe mein erstes Flüchtlingslager gesehen, als ich für ein Kunstprojekt in Kenia war: Es war heiß und schmutzig. Die Zelte waren stickig, weil sie überhaupt nicht belüftet waren. Es herrschte Lethargie. Anfang 2012 war ich dann im Libanon, als die ersten syrischen Flüchtlinge dort ankamen. Es war kalt, zwei Grad Celsius: Und es wurden genau dieselben Zelte aufgestellt. Wenn Menschen unter solchen Bedingungen leben, entstehen doch schon in den Lagern die nächsten Konflikte.
Warum benutzen die Hilfsorganisationen immer dieselben Modelle?
Es geht darum, möglichst schnell möglichst viele Menschen unterzubringen. Wenn eine Katastrophe passiert, müssen nach drei Tagen die ersten Zelte geliefert und aufgebaut sein. Es gibt Normen für Gewicht und Größe, genau definierte Ablaufpläne. Da tritt eine ausgefeilte Logistikkette in Gang.
… die Sie durchbrechen wollen.
Ja. Ich bin nach meinem Kunststudium viel gereist und habe auf der ganzen Welt Slums gesehen. Ich habe bemerkt, dass sie überall anders aussehen. In Tokio haben die Obdachlosen Schiebetüren in ihre Papphütten eingebaut. Jeder möchte sein Zuhause gestalten, auch wenn er keines hat. Flüchtlinge versuchen an den Zelten herumzubauen, sie schneiden Teile aus der Plane oder halten Hühner. Dafür sind die genormten Zelte aber nicht ausgelegt. Sie gehen außerdem schnell kaputt, und Ersatzteile gibt es nicht: Man kauft also ein neues Zelt und beginnt von null.
Und das ist bei Ihrem Zelt anders?
Ich nenne es nicht Zelt, sondern modulares System. Es besteht aus einem Boden, einem Tragwerk und einer Außenhaut. All das stellt unsere Firma »morethanshelters« in verschiedenen Materialien her, die man kombinieren kann wie bei einem Lego-Baukasten: In einem Lager in der Hitze von Kenia braucht man eine luftdurchlässige Außenhaut, im libanesischen Winter eine, die besser isoliert. Wenn es Überschwemmungen gibt, können wir den Boden erhöhen und das Zelt so trocken halten. Bei einem Wintereinbruch fügen wir außen eine zweite Haut hinzu und füllen den Zwischenraum mit Stroh: Schon haben wir eine Isolierschicht. Das Tragwerk macht die Unterkunft fast so stabil wie eine Hütte.
Das klingt nach einem komplizierten System.
Nein, es ist so angelegt, dass auch Menschen ohne Vorwissen es in kurzer Zeit auf bauen können. Fast alles ist ohne Werkzeuge und eigenhändig von den Bewohnern machbar. Das ist ein wichtiger Bestandteil der Idee: Die Menschen sollen ihre Unterkunft selber mitgestalten können. Sogar Grundriss und Form eines Zeltes lassen sich verändern und vergrößern, wenn man zum Beispiel Platz für Familienmitglieder braucht, die neu ins Lager kommen. Weil man die einzelnen Komponenten ersetzen kann, ist es viel haltbarer. Und umweltfreundlicher.
Könnte man nicht auch bei den anderen Modellen eine Zeltstange austauschen?
Nein, die kommen nur paketweise, weil sie eben nicht aus Modulen bestehen. Die bisherigen Zelte halten sechs bis acht Monate, dann gehen sie in der Regel kaputt. Das mag vor 50 Jahren noch gereicht haben. Doch die Konflikte dauern heute länger. Zum Beispiel Syrien: Wer weiß, lange der Bürgerkrieg noch anhält? Außerdem gibt es heute Hunderttausende Klima-Flüchtlinge, die vielleicht nie wieder in ihre Heimat zurück können, weil sie unbewohnbar geworden ist.
Wie reagieren Hilfsorganisationen auf Ihre Erfindung?
Wir müssen natürlich immer daran arbeiten, nicht als die »crazy designers« gesehen zu werden, die von außen kommen und denken, sie retten die Welt. Meiner Erfahrung nach gibt es zwei Motivationen in dem Geschäft: Die einen wollen Gutes tun. Die sind von unserer Idee sofort überzeugt. Andere denken vor allem in Budgets und Kosten. Denen müssen wir die besseren Argumente liefern. Am Ende müssen wir ein Zelt für 600 bis 700 Euro verkaufen – teurer geht nicht. Und das ist machbar.
Wann werden das erste Mal Menschen in Ihren Zelten schlafen?
Das tun sie schon. Unsere Zelte stehen etwa auf Musikfestivals. Das ist ein gutes Testfeld und eine Einnahmequelle. Gleichzeitig haben wir zwei Pilotprojekte mit Hilfsorganisationen, eines in Kenia, das andere in Südafrika.
Sie leben seit Jahren als Künstler in Hamburg und Berlin, und nun beschäftigen Sie sich hauptberuflich mit Flüchtlingszelten. Wie passt das eigentlich zusammen?
In den Flüchtlingslagern dieser Welt kann ich viel mehr Menschen erreichen als in den Top-50-Ausstellungshallen in den großen Städten. Wenn meine Idee in Gebieten ankommt, wo sie wirklich etwas bewirkt, wenn ich eines Abends die Tagesschau einschalte und nicht die ewig gleichen Bilder von elenden weißen, quadratischen Zeltstädten sehe, dann habe ich mein Ziel erreicht. Ob ich dann als Künstler, Sozialunternehmer, Gutmensch oder Weltretter bezeichnet werde, ist mir relativ egal.
Der Designer: Daniel Kerber, geboren 1970 in Frankfurt am Main, hat in Düsseldorf und Paris bildende Kunst studiert. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich seit mehr als 15 Jahren vor allem mit Architektur und Design, besonders mit sogenannter informeller Architektur wie Behausungen in Slums oder von Obdachlosen. Das von ihm entwickelte Zelt ist mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden.
Recherchiert und umgesetzt zusammen mit Christoph Gurk, erschienen im Süddeutsche Zeitung Magazin, Ausgabe 31/2013. Das Portraitfoto von Daniel Kerber hat Christoph Gurk gemacht.