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Szenen einer Zugfahrt

Die Reise auf der Seidenstraße ist für viele ein Lebenstraum. Doch bei genauem Hinsehen zeigt sich: Was die einen Entschleunigung nennen, ist Knochenarbeit für die anderen.

Kurz kommt Unruhe auf. Das monotone Rattern, verursacht durch die unverschweißten Schienen, hat aufgehört. Stillstand. Drinnen: kurze Verwirrung. Draußen: nichts. Und das nicht nur, weil es dunkel ist, sondern weil draußen wirklich das Nichts herrscht, Wüste. Selbst das Geröll und die trockenen Büsche am Gleis sind in der Dunkelheit mehr zu erahnen denn zu sehen. Ältere Herren kommen durch die schmalen Türen aus ihren Kabinen, die Haare struppig, weil der Kopf beim Lesen an der Polsterwand geschubbert hat. Sie schieben sich an den Korridorfenstern vorbei, lehnen sich gegen die Scheiben, fachsimpeln über Zugmotoren. Es läuft nicht nach Plan, das irritiert sie sichtlich. Vielleicht, weil sie Senioren sind, aber auch, weil sonst alles wie am Schnürchen läuft. Da knackt es aus dem Lautsprecher an der Abteilwand. Gerade gehe es hier nicht weiter. Der geplante Halt zwischen Navoiy und Chiwa vor dem Abendessen falle vermutlich aus. Erleichtertes Aufatmen, nichts Schlimmes also, jemand kümmert sich, das ist so beruhigend wie notwendig.

Eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn oder entlang der Seidenstraße ist für viele ein Lebenstraum. Sie ist teuer und aufwendig, und so sind vor allem gutsituierte Rentner im Zug: Ehemalige Lehrerinnen und Ingenieure, die meisten über 70, sind aus Leipzig, Wien und Tel Aviv angereist, lassen sich die 4100 Kilometer in dem privaten Luxuszug die einstige Seidenstraße entlangkutschieren. Immer nach Osten, von Achgabat in Turkmenistan über Usbekistan nach Almaty in Kasachstan. Zwischendurch machen sie halt, schauen alte Moscheen an, Handwerksmärkte und traditionelle Konzerte. Es ist Lebenstraum und Abenteuer zugleich, manche der Gäste sprechen darüber, als wäre es ihre letzte Reise: “Das gönnen wir uns jetzt noch”, sagen sie. Und gerade weil es nicht einfach um den nächsten Urlaub und etwas Entspannung geht, sind mehr als nur freundliche Betreuung und gutes Essen notwendig; jeder der 102 Gäste hat eine eigene Vorstellung von seiner Traumreise. Die Sonderwünsche reichen vom eigens mitgebrachten Hummus bis zur Dame, deren Koffer so groß ist, dass er nicht ins Gepäckfach passt. Und so sorgen 42 Köche, Putzfrauen, Schaffner und Techniker dafür, dass die Gäste ihren restlichen Ruhestand lang gern an diese Tage zurückdenken werden.

Die Aufregung vor der Abfahrt in Buchara ist groß, wieder hat der Zug haltgemacht, einige der Gäste waren zwei Nächte in Hotels – um mal wieder eine richtige Dusche und ein breites Bett zu haben, es soll schließlich bequem sein. Auch das gehört zu einer durchorganisierten Luxuszugfahrt. Nun geht es zurück an Bord, jedes Mal ein aufregendes Manöver: Einerseits wollen die Herrschaften unbedingt noch ein Foto von der Wagenreihe mit den goldenen Schildern und den uniformierten Schaffnern, die mit der Gleichgültigkeit routinierter Models vor den Türen warten. Andererseits ist vielen Reisenden die Unruhe anzusehen: Man könnte den Zug verpassen. Ein interessanter Kontrast: Gepäckträger, Schaffner, alle gehen gemächlich; in Usbekistan herrscht permanent das Gegenteil von Aufregung. Die auf Entschleunigung abonnierten Touristen dagegen hetzen das Gleis entlang, bücken sich für Großaufnahmen der Räder und steigen doch zehn Minuten vor Abfahrt schon mal ein, “zur Sicherheit”.

Eine Dieselwolke steigt auf, es brummt, unter Schnaufen verlässt der Zug den Bahnhof – vorbei an Fabrikhallen, Vorstadtplattenbauten und Lehmhäusern. Es rattert. Und rattert. Die Langsamkeit einer Zugreise und die Aufregung der zentralasiatischen Exotik bilden das Spannungsfeld der Reise. Einerseits sind die älteren Herrschaften abenteuerlustig, aber eine normale Busreise ist ihnen zu fad, sie wollen etwas erleben. Zu aufregend darf es andererseits nicht werden. Vor allem anfangs herrscht eine Mischung aus Aufregung, Nervosität und Begeisterung. “Am schwierigsten ist der erste Tag”, sagt Lebedewa Galina. Im ernsten Gesicht der Zugchefin erscheint kurz etwas, das an ein Lächeln erinnert. Seit 35 Jahren arbeitet sie in Zügen. “Erst, wenn die Gäste ausgepackt haben, sich ausgeruht und den ersten Tee getrunken haben, wird es ruhiger.”

Dabei strahlt der Zug auf jedem Zentimeter Behäbigkeit aus: Die Waggons sind dunkelrot und dunkelgrün. Das Innere ist die Miniaturausgabe eines alternden Grandhotels: Auf den Etageren am Abteilfenster liegen Nüsschen und Mandarinen. Mit der grau-funktionalen City-Nightline der Deutschen Bahn haben sie so viel Ähnlichkeit wie Harrods mit einer Kaufhof-Filiale. Man könnte sich gut vorstellen, dass man mit diesem Zug auch nach Hogwarts statt nach Samarkand rollen könnte. Und doch, nicht alles ist hübsch und charmant: Die Leiter fürs obere Bett ist im Kleiderschrank untergebracht und das Bad eine Art Duschkabine, wo zwischen Waschbecken und Toilette stehend geduscht wird. Jeder Zentimeter wird genutzt.

Dass die Fahrt von Achgabat nach Almaty für die meisten Gäste trotzdem eine komfortable Erfahrung ist und sie sich höchstens mit der Frage nach der nächsten Toilette befassen müssen, ist Ergebnis einer jahrelang einstudierten Choreographie: Erst gibt es Frühstück, dann wird gehalten, die Gäste schauen den Registanplatz in Samarkand an oder eines der anderen mehr als 1400 Baudenkmälern des Landes, sie besuchen Weinproben und Museen. Wenn sie zurückkehren, liegt im Abteil der Zeitplan für die nächsten Tage. Es gibt Kaffee und einen Vortrag von der Reiseleiterin über Lautsprecher im Abteil, dann Abendessen, um 18 Uhr für Gruppe A, um 19.30 Uhr für Gruppe B.

Dass das alles funktioniert, haben sie den Menschen zu verdanken, die hinter den Kulissen arbeiten: Köche, Putzkräfte und Mechaniker sind Tag und Nacht im Einsatz. Fast jeder Mitarbeiter hat mehrere Funktionen: Sergej und Olga, ein Paar, das seit Jahren einen Waggon betreut, putzen die Badkabinen, während die Gäste frühstücken. Abends bauen sie die Sitzbank zum Bett um und legen die Kissen bereit. Sie bringen auf Wunsch einen Kaffee am Nachmittag oder nachts eine zweite Bettdecke. Selber essen sie kurz nachmittags und bereiten nach dem Abendessen das Frühstück vor. Sascha Ukrainskij, der für Frühstück und Abendessen deckt, ist auch eine Art Animateur. An diesem Montagabend hat er noch Hering aufgetragen, jetzt ist Wodkaprobe. Er trägt eine rote Mütze und durchschreitet routiniert den schwankenden Speisewagen mit den immer häufiger wankenden Gästen. “Noch etwas Zedernwodka”, sagt er, mehr ein Befehl als eine Frage.

Die Versorgung mit Getränken und Lebensmitteln ist die größte Herausforderung. Mit 50 Flaschen Wodka und je sechs Säcken Zwiebeln und Kartoffeln geht Chefkoch Mischa Kamolow an Bord. In jeder Stadt kauft er nach. Heute hat er Obst und Gemüse auf dem Markt von Chiwa geholt. Es wird viel verbraucht, vor allem aber gibt es wenig Lagerplatz. Für Frühstück und mehrere Gänge Abendessen haben der Chefkoch und seine zwei Assistenten keine acht Quadratmeter Platz. Das Miniabteil, in dem die drei kochen, wurde noch zu DDR-Zeiten gebaut. Darin hängt Knoblauch von der Decke, die Bleche stapeln sich, und oft ist es so dampfig, dass die drei die Tür offen lassen – zur Freude der Gäste. “Aber die quatschen mich nicht an”, sagt Kamolow und grinst breit. Seit er 21 Jahre alt ist, kocht der sechzigjährige Tadschike in Zügen. Seit einem Vierteljahrhundert ist er auf dieser Route dabei. “Damals fand ich das romantisch, ich war jung.” Auf so wenig Raum 102 Schnitzel zu braten ist er längst gewohnt. “Eigentlich ist es nach all den Jahren komplizierter, in großen Räumen zu kochen.” Noch mache es Spaß, aber es werde immer schwerer, erzählt er, weil mehr Menschen vegan essen oder kein Gluten vertragen.

Unverträglichkeiten und Enge hin und her, nach einigen Tagen ist der Alltag zwischen wenigen Quadratmetern Kabine und kilometergroßen Plätzen vor jahrtausendealten Denkmälern Routine. Die enge Dusche, das Frühstück, bei dem man sich konspirativ zunickt, gestern Abend hat man sich mit Wodka zugeprostet. Abends sitzt man zusammen, staunt, lacht über die skurrile Mischung, innerhalb wie außerhalb des Zuges. Die künstliche Holzfolie, das Aluminium, man sieht den Wagen an manchen Ecken an, dass sie einst im Osten gebaut wurden. Die Troddeln an den Samtkissen und die Ornamente an den Speisewagenwänden verweisen auf den Orient. An jedem Bahnhof warten Musiker, die aus ungewöhnlichen Instrumenten noch ungewöhnlichere Töne herauszwängen. Unterwegs erzählen Stadtführer Geschichten wie die von Amir Timur: Der Herrscher ließ drei erlegte Hammel an drei Orten Usbekistans aufhängen. Dort, wo das Fleisch am besten erhalten blieb, ließ er Samarkand gründen.

Auf dieser Reise lernt man außerdem, dass es in diesem Land Bahnhofsaufseherinnen gibt, die auch ein Gefängnis leiten könnten und Hallen von der Gemütlichkeit eines Operationssaales überwachen. Über den Gassen hängen mit Salz und Pfeffer gefüllte Plastikflaschen, die gegen den bösen Blick schützen. In einem Reiseführer ist Usbekistan so definiert: “In der linken Hand den Wodka, in der rechten den Koran.”

Ein Herr freut sich an diesem Abend im Speisewagen bereits, wenn er zu Hause wieder Zeitung lesen und Bier trinken werde. Aber die nächste Zugreise plant er schon: eine Fahrt mit der “Transsib”, wie die Transsibirische Eisenbahn bei Eingeweihten heißt, soll es sein. Auch Chefkoch Mischa Kamolow freut sich auf zu Hause. Dann gibt es für ihn wieder richtiges Essen. Hier an Bord ernährt er sich nur von Haferflocken mit Nüssen, erzählt er in einer kurzen Pause, das mache satt und wenig Mühe. “Für alles andere ist keine Zeit”, sagt er und stapft zurück in die Küche. Die Suppe für den Abend muss zubereitet werden.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Ausgabe vom 2. April 2017. Die Fotos stammen von Lernidee Erlebnisreisen (3.v.o), dem Kollegen Matthias Niese (2.v.o.) und mir.

Lea Hampel