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Reise lieber ungewöhnlich – sechs Tage Grönland

Wenige Länder vereinen so viel Skurriles auf so wenigen Quadratkilometern wie Grönland. Schon deshalb ist das Land eine Reise wert. Eine Erkundung in sechs Tagen.

Tag 1, die Ankunft: Wie, alles grün?
Ein lauer Sommertag am Kopenhagener Flughafen. Dass ich am richtigen Gate stehe, erkenne ich an meinen Mitreisenden. Sie sind, wie ich, dick eingepackt. Die vierte Pulloverschicht, die mich vollends bewegungsunfähig macht, habe ich mir für die Ankunft aufgehoben. Wir fliegen gleich nach Grönland, wo die Temperatur zwischenzwei und sieben Grad liegt und die Regenwahrscheinlichkeit bei 80 Prozent. Als der Kapitän die Landung ankündigt, schaue ich verwirrt aus dem Fenster: Wo ist das Eis? Wir gleiten über grüne Hügel. Aus dem Reiseführer lerne ich: „Grön“ steht für grün, und das ist die weltgrößte Insel an ihrer Südküste auch. Nachdem ich mit zehn Schritten das Rollfeld überquert habe, stehe ich im Flughafenterminal, das kleiner ist als eine durchschnittliche Turnhalle. Die Koffer und Taschen wackeln über ein Fünf-Meter-Gepäckband. Am anderen Ende des Rollfeldes steht das „Hotel Narsarsuaq“ (hotelnarsarsuaq.gl, DZ ab ca. 106 Euro), das einzige Hotel des Ortes, mit Fliesenboden und Getränkeautomat – eine charmante Erinnerung ans Landschulheim. Die Frau an der Rezeption reckt neugierig den Kopf, als neue Gesichter reinkommen – sonst kennt sie hier alle. Der Ort hat 160 Einwohner. Hier in der Hotel-Cafeteria sind sie alle Stammgäste. Mehrmals die Woche treffen sie sich im darüber liegenden „Blue Ice Café“ (Highlights: Billardtisch und Diskokugel). Kaum habe ich mein Zimmer bezogen, klopft Mads an meine Tür. Er wird unsere Reisegruppe begleiten. Sein Rat: Warm anziehen! Ich starre auf seine dünne Funktionsjacke. „Ich bin ein Eskimo, ich friere nicht“, lacht er. Dabei sagt man längst nicht mehr Eskimo (übersetzt: die, die rohes Fleisch essen) zu den Ureinwohnern am Nordpol. Politisch korrekt ist Inuit. In Grönland gibt es aber einen eigenen Begriff: Mads ist ein Kalaallit, eine Volksgruppe der Inuit, und wie viele hier lächelt er die ganze Zeit.

Die Häuser sind bunte Farbtupfer – und die jeweilige Farbe sagt etwas über die Funktion des Hauses aus.

Tag 1, zweiter Teil: Die spinnen, die Wikinger
Bevor wir am Abend in die kulinarischen Feinheiten des Landes eingeführt werden (Fisch, Lamm und Moschusochse), steht Geschichte auf dem Programm. Wir fahren mit dem Boot nach Qassiarsuk, wo der Sage nach vor über 1000 Jahren der Wikinger Erik der Rote das Land zum ersten Mal betreten hat. Wie es weiterging, nachdem er dem Land seinen Namen gegeben hat, erzählt uns Edta, von Beruf Geschichtenerzählerin. Die Kurzfassung: Viele haben sich um die Insel gekloppt, heute ist sie ein unabhängiger Teil von Dänemark.

Tag 2: Wie, kein Internet???
Als ich mir am nächsten Morgen in der Hotelkantine mein Frühstück hole, muss ich lachen: Die Frau an der Kasse strahlt mich an, kein Wunder, wir kennen uns schon, sie hat mir gestern am Flughafen Kaffee verkauft. Grönland, immerhin die größte Insel der Welt, scheint mit 57 000 Einwohnern so familiär, dass sogar ich mich schon zu Hause fühle. Nur mit der Sprache hapert es. Wörter unter 14 Buchstaben sind die Ausnahme, außerdem verbinden die Grönländer gern viele Vokale. Ich versuche „Qujanarsuaq!“ für „Vielen Dank“. Während ich schrumpelige Äpfel fürs Müsli schneide (Obst ist rar, es muss eingeflogen werden), hat meine Gruppe nur ein Thema: den Kontakt zum Festland. Handy-Empfang hat man nur selten. In einem Zimmer neben der Rezeption gibt es für acht Euro pro Stunde Internet, der Raum ist voll. Aber um Mails zu lesen sind wir eh nicht hier, sondern wegen der Eisberge. Als wir an den Hafen fahren, sichten wir den ersten. Er liegt wenige Meter vor dem Steg, als hätte ihn Bob Ross persönlich gemalt. Auf unserer Reiseroute steht für heute das Örtchen Qatorqoq an. Hier sieht es aus, als hätten sich Michel aus Lönneberga und Frodo Beutlin ein Dorf gebaut: Bunte Holzhäuschen schmiegen sich an grüne Hügel. Aber es ist nicht etwa so, dass sich die Grönländer ihre Hausfarbe aussuchen. Die Farbe hängt von der Funktion des Gebäudes ab: Handel rot, Gesundheit gelb, Polizei schwarz. Mein Highlight ist der Supermarkt. Dort gibt es Gewehre, aufgereiht wie in anderen Läden neue Besen. „Hier leben viele wilde Tiere“, erklärt Mads und erzählt von Eisbärüberfällen. Meine zweite Lektion in Sachen grönländischer Konsumlogik erhalte ich beim Versuch, ein Bier zu kaufen. Das gibt es nach 18 Uhr nicht, zu gefährlich. Alkoholprobleme sind weit verbreitet und mit solchen Regeln versucht die Regierung einzuschreiten. Ich finde die Vorstellung absurd, dass man leichter an Waffen kommt als an ein Bier.

Obst und Gemüse gibt es nur wenig in Grönland – dafür aber verschiedenste Kräuter und andere Pflanzen, die zum Kochen verwendet werden können.

Tag 3: Wer braucht schon Straßen?!
Abends hatte ich mich bereits aufs Aufwachen mit Sicht auf den Eisberg gefreut. Stattdessen: Menschenmassen. Vor dem Hafen liegt ein Kreuzfahrtschiff. Touristen schlendern durch den winzigen Ort, der sich in einen Basar für Perlenohrringe und Robbenfellhandschuhe verwandelt hat. Für uns geht es aufs Meer, anders kommt man nicht weg. Straßen enden kurz hinter den Orten, Bahnlinien gibt es nicht. Gut zwei Stunden rasen wir vorbei an grünen Hügeln, Eisschollen und Felsen, bis Mads das kleine Boot vor einer Wiese mit zwei kleinen Teichen anhält. „Ausziehen!“, ruft er. Baden bei Nieselregen und zwei Grad? An Land tausche ich trotzdem Daunenjacke gegen Bikini. In schnellen Schritten husche ich über das feuchte Gras und stecke einen Zeh in eines der Wasserlöcher. Wow! Die „heißen Quellen von Uunartoq“ verdienen ihren Namen. Schnell hinein. Zum ersten Mal seit zwei Tagen ist alles warm. Schöner wird es nicht mehr!, denke ich. Bis wir später die Bucht von Lars und Makka ansteuern. Die beiden warten bereits vor ihrem roten Haus in der Sonne. Seit 40 Jahren züchten sie hier Schafe. Der Tisch ist schon gedeckt, es gibt Kuchen mit Rhabarber aus dem Garten und abends Lamm und Eiscreme. Gäste sind für Lars und Makka eine zusätzliche Einnahmequelle (Bonnie Tyler war auch schon da, sehe ich im Gästebuch). Und eine willkommene Abwechslung: Die nächsten Nachbarn wohnen drei Kilometer weg. Ihr Sohn hatte früher einen Hubschrauber, um Freunde zu besuchen. Als ich mich abends unter dem Dachfenster in die Decke kuschle, leuchten über mir die Sterne.

 

 

Straßen gibt es durchaus in Grönland – sie verbinden einzelne, nahe beieinander liegende Siedlungen. Quer durchs Land kommt man aber nur mit dem Flugzeug.

Tag 4: Heute im Angebot: Moschusochse
Ich werde von der Sonne geweckt. Der Duft von Kaffee kriecht unters Dach, und als ich die Treppen heruntersteige, ist der Tisch wieder beladen: Moschusochsenwurst, Lachs und Eier. „Nur die Haferflocken haben wir nicht selbst gemacht“, witzelt Makka. Heute geht es – natürlich wieder mit dem Boot – nach Igaliku, im Reiseführer als „die idyllischste Siedlung in ganz Südgrönland“ angekündigt. Als wir den Ortsrand erreichen, gräbt gerade einer der 30 Einwohner seinen Garten um, während in seinem Radio eine Reggaeversion von „Hey Jude“ läuft. Entspannung scheint hier Existenzmotto. Für uns heißt es erst mal wieder: essen. Moschusochsengulasch. Vegetarier findet man in Grönland eher selten. Aber nach Tagen an der kühlen Luft schmeckt das Gulasch so gut wie früher am Sonntag bei Oma. Als ich googeln will, wie die ominösen Ochsen lebendig aussehen, fällt mir auf: Der Akku meines Handys ist fast noch voll. Ich habe in fünf Tagen nur zweimal draufgeschaut. Und nichts vermisst. Ein ganz neues Lebensgefühl!

Die Farm von Lars und Makka liegt gefühlt am Ende der Welt. Sicher aber liegt sie mehrere Bootsstunden vom nächsten größeren Ort.

Tag 5: Eis, Eis, Baby!
Vorletzter Tag. Draußen liegt ein Leuchten über der Bucht. Auf meiner Checkliste fehlt noch: das Eis, das ewige. Also ab ins Boot. Wir hüpfen über die Wellen. Dann taucht in der Ferne eine große, weißbläuliche Erhebung auf, die sich aus den Bergen gen Meer erstreckt. Beeindruckend! Je näher wir dem Gletscher kommen, desto mehr Eisstücke schwimmen ums Boot. Mads fischt mit einem Netz einige Brocken aus dem Wasser, packt sie in die Kühlbox und ruft „Überraschung!“. Er hat eine Flasche Martini dabei, wir stoßen angesichts tausend Jahre alter Eisschichten auf die Ewigkeit an. Zurück ins Hier und Jetzt: Ein Sturm steht an, wir müssen zurück. In Narsarsuaq ist es bereits dunkel. Ein „Greenlandic Coffee“ (Whiskey, Kahlúa, Grand Marnier, Kaffee und Sahne) soll mir den Abschied erleichtern. 135 Dänische Kronen, etwa 18 Euro, kostet er im „Blue Ice Café“. Dafür wärmt er wie eine Mini-Heizung von innen.

 

Einzelne Eisberge liegen wie vergessene Boote vor fast jedem Ort im Meer.

Tag 6, die Abfahrt: Und täglich grüßt der Grönländer
Zurück in der vertrauten Kantine des Narsarsuaq-Hotels komme ich mir vor wie bei „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Die Flughafenarbeiter sitzen am gleichen Tisch und das Frühstück sieht auch aus wie am ersten Tag: schrumpeliger Apfel, Schnittkäse und Moschusochsenwurst. Mein heimisches Müsli fehlt mir trotzdem kaum. Viel zu sehr habe ich mich an die sanften grünen Hügel und die immer lächelnden Menschen gewöhnt. Dass ich vor Abschiedsschmerz keinen Bissen runterbekomme, hat einen Vorteil: Weil der Rückflug von Grönlands Hauptstadt Nuuk geht, steigen wir in eine kleine Propellermaschine. Das Mini-Flugzeug bringt uns unter so heftigem Gerumpel zu einem größeren Flughafen, dass ich mich kurz frage, welche Beerdigungsriten die Inuit wohl pflegen. Als wir in Nuuk in ein größeres Flugzeug umsteigen, mache ich Halt im Souvenirshop am Flughafen. Ein Set für grönländischen Kaffee? Eine Funktionsjacke? Oder doch getrocknetes Robbenfleisch? Meine Freunde daheim fänden diese Mitbringsel sicher ein wenig bizarr. Aber so ist Grönland nun mal.

Erschienen ist der Text im Magazin Cosmopolitan, Ausgabe 10/2014. Die Fotos stammen von Ella Groedem (gelbes Haus und Eisberg) und mir.

Lea Hampel