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Nagelprobe

Das Geschäft mit Pediküre und Maniküre boomt – und vietnamesische Studios dominieren den Markt immer stärker mit Billigpreisen. Damit sind auch Niedriglöhne für die Mitarbeiter verbunden, die regelrecht ausgebeutet werden.

Im ersten Moment klingt es nach Zahnarzt. Die Frau im weißen Kittel hat einen Fräskopf auf den Minibohrer gesetzt. Das schrille Surren wird dumpfer, als die elektrische Feile auf den Nagel des Zeigefingers trifft und die oberste Schicht in eine matte, raue Fläche verwandelt. Es riecht leicht verbrannt. Zwischendurch hebt die asiatisch aussehnde Frau den Kopf. Sie blinzelt zwischen ihrem schwarzen Pony und dem Mundschutz hindurch und lächelt schüchtern: „Tut nicht weh?“ Eine weitere Frau kommt herein, für die Maniküre reicht ihre Mittagspause gerade aus. Platz nehmen, entspannen, schöner werden: Ins Nagelstudio gehen bedeutet, sich etwas zu gönnen. Jemanden dafür zu bezahlen, dass er einem die Nagelhaut entfernt, Lack aufträgt und die Hände massiert, während man den Gedanken nachhängt, ist ein kleiner Luxus im Alltag.

Es gibt keine genauen Zahlen, wie viele Nagelstudios in den letzten Jahren in Deutschland aufgemacht haben. Sicher ist nur, dass Nageldesign längst ein Riesengeschäft geworden ist. Die Stadt München führt eine Bestandsstatistik: Etwa 700 Geschäfte für Fingernagelund Handkosmetik und Nagelstudios stehen darin, dazu kommen unzählige Kosmetikstudios, die ebenfalls Maniküre anbieten. Ein großes Angebot für etwas, das man, im Gegensatz zu einem Friseuroder Sonnenstudiobesuch, auch selbst erledigen kann.

Nagel 1Das Studio liegt in einem großen Einkaufszentrum in der Münchner Innenstadt zwischen asiatischen Lebensmittelgeschäften und Schnäppchenläden. Schon von Weitem ist die grüne Beleuchtung zu sehen, an der Decke hängen Plastikkronleuchter. Chemischer Gestank beißt in der Nase, eine Preisliste hängt an der Glastür: Shellac-Maniküre 30 Euro, Frenchnails 3 Euro pro Nagel, das Gesamtpaket aus Maniküre und Pediküre 45 Euro. In einer Ecke steht eine schwarze Ledercouch, dazu Klatschmagazine und Kunstblumen in großen Vasen, eine exotische Ruheoase zwischen Sandwich und Nachmittagsbesprechung.

Geht man durch die Münchner Nagelstudio-Landschaft, hat man das Gefühl, die ganze Welt biete in der bayerischen Landeshauptstadt Pediküre und Maniküre an. Es gibt Studios mit französischem Namen, mit spanischem, mit deutschem – und vor allem immer wieder Amerika: „US Nails“, „American Nails“ oder „New York Nails“. Doch sind es keine Amerikaner, die hier Kunden die Nägel feilen, sondern fast immer Vietnamesen. Seit einigen Jahren sind sie immer stärker auf dem Markt vertreten. Laut offiziellen Zahlen gehört heute jedes zehnte Studio in München einem Vietnamesen, doch geht man an den Studios in der Innenstadt vorbei, arbeiten dort fast ausschließlich junge asiatische Frauen.

Auch im Studio in dem Münchner Einkaufszentrum sitzen nur Vietnamesinnen hinter den Maniküre-Tischen oder am Fuße der Pediküre-Liegen. Drei Stück gibt es davon im hinteren Bereich des Studios, vorn acht Plätze für Maniküre. Auf jedem Tisch liegt ein Handtuch.

Bei der Nagelpflege werden die Fingerkuppen zunächst in Flüssigkeit getaucht, anschließend wird ein Gel auf die Nagelhaut aufgetragen, damit sie leichter zurückzuschieben ist. Mit einer Minizange zwickt die Dame an den Rändern der Nägel entlang, entfernt Hornhaut und feilt anschließend die Nägel zu runden, gleichmäßigen Bögen. „Welche Farbe?“, fragt sie und hält ein Muster hoch, auf dem mehrere Dutzend Nagelfarben zu sehen sind, von Blassgelb über Rot bis zu Schwarz mit Glitzer. „Was empfehlen Sie denn?“ Erst beim zweiten Mal versteht sie die Frage, Deutsch fällt ihr schwer. „Glitzer ist schön, und Rot passt zum Winter“, sagt sie. Die Worte kommen ihr schnell über die Lippen, sind aber schwer zu verstehen, weil sie leise spricht und mit einem starken Akzent – so als würde sie am liebsten ganz schweigen. Heute soll es trotzdem Türkis sein. Dafür sind zunächst zwei Schichten Basislack notwendig. Anschließend trägt die Frau den türkisen Shellac auf, einen teuren Speziallack, der als besonders kratzfest und beständig gilt und in Deutschland erst seit 2010 auf dem Markt ist. Immer drei Streifen nebeneinander, dann ein Querstreifen. Getrocknet werden die Nägel unter UV-Licht. Zwischendurch zieht sie die Hand zur Lampe, um zu sehen, ob alles gleichmäßig ist. „Gut, oder?“, fragt sie.

Es gibt eine Reihe von Gründen für die zunehmende Dominanz der Vietnamesen in der Nagelpflege-Branche – eine Kausalkette, die in den 1970er-Jahren in den USA beginnt. Damals fingen einige vietnamesische Flüchtlinge an, in BeautySalons zu arbeiten und Nagelpflege anzubieten. Schnell erkannten sie, dass es einen großen Markt für Nagelpflege in den USA gab, sie lernten Freunde und Verwandte an und eröffneten bald Nagelstudios in den ganzen USA. Heute wird der Markt dort zu bis zu 80 Prozent von Vietnamesen dominiert. Mit dem Erfolg gelangte die vietnamesisch-amerikanische Nagelkunst von den USA zurück nach Vietnam und letztendlich auch nach Deutschland, wo die Namen der Studios noch an ihren Ursprung erinnern.

Der Grund für diese globale Erfolgsgeschichte liegt vor allem auch in der Struktur des Nagel-Business. „Man braucht nicht viel, um in das Geschäft einzusteigen – aber man kann viel Geld verdienen“, sagt Thao Nguyen (Name geändert). Nguyen ist eine der wenigen Vietnamesinnen aus der Branche, die mit der Presse sprechen wollen – und das vermutlich vor allem deshalb, weil sie einst ein Nagelstudio hatte, aber längst nicht mehr in der Branche ist. Ihren richtigen Namen möchte sie trotzdem nicht öffentlich machen. Alle anderen – auch im Studio, wo die türkisen Nägel entstehen – blocken Interviewanfragen unmittelbar ab, vielleicht aus Angst vor Behörden und Kontrollen, vielleicht weil sie sich unsicher fühlen in der fremden Sprache. Viele gehören zur Gruppe der Vietnamesen, die über Osteuropa oder erst vor wenigen Jahren eingewandert sind. Insider schätzen, dass sie den Großteil der Nagelstudios in Deutschland betreiben.

Frau Nguyen gehört dagegen zu den Flüchtlingen aus Vietnam, die Ende der 1970er-Jahre nach dem Sieg des Nordens über den Süden nach Deutschland gekommen sind. Frau Nguyen hatte studiert, sie machte hier eine Ausbildung zur Apothekerin, jahrelang arbeitete sie als Laborgehilfin, dann verlor sie ihren Job und fand keinen neuen. „Eine Cousine von mir hat mehrere Nagelstudios in den USA“, sagt Nguyen, „die gehen sehr gut, also habe ich gedacht: Das könnte ich auch in Deutschland machen.“ Frau Nguyen besuchte ihre Cousine in den USA, drei Wochen lang lernte sie bei ihr, wie man Nägel feilt, lackiert und poliert. Zurück in Deutschland, absolvierte sie Kurse, mehr braucht es nicht.

„Nageldesigner“ ist – anders als zum Beispiel „Friseur“ – keine eingetragene Berufsbezeichnung. In Deutschland darf sich jeder so nennen, ohne eine Ausbildung oder Ähnliches absolviert zu haben. Man braucht keine fortgeschrittenen Sprachkenntnisse und muss nur dem Gewerbeamt melden, dass man ein Geschäft eröffnet. Weitere Unterlagen oder die deutsche Staatsbürgerschaft sind nicht nötig. Die Anfangsinvestitionen sind gering, und wer kein Geld für Feilen und Materialien hat, kann sich stundenweise einen Tisch in einem Laden mieten. Das Handwerk lernt man direkt vor Ort, „on the job“, das heißt: am Kunden, direkt im Laden.

„Lange, lange“ müsse man lernen, bis man Nägel so machen könne, sagt die Frau, die mit Mundschutz im grün beleuchteten Studio im Einkaufszentrum sitzt. Gelernt, sagt sie, habe sie das mit den Nägeln hier im Laden. Während sie feilt und lackiert, herrscht ringsherum Gewusel – nicht an Kunden, aber an Personal. Immer wieder kommen andere junge Frauen herein, die hier arbeiten. Eine sitzt sichtlich gelangweilt auf der Wartecouch und blättert in Magazinen, nebenher unterhalten sich die Frauen auf Vietnamesisch, zwischendurch kommt eine alte Frau, nimmt Bargeld aus der Kasse und geht wieder. Kunden kommen unter der Woche zur Mittagszeit kaum. Ist das immer so? „Nur am Wochenende manchmal viel, aber oft leer.“

Nagel 2

Viele der Vietnamesinnen, die in Nagelstudios arbeiten, haben keinen festen Stundenlohn, sie bekommen nur Umsatzbeteiligung, erklärt Frau Nguyen. Zahlen möchte sie nicht nennen – wie auch kein anderer aus der Branche. Verraten wird nur, dass es sehr wenig Geld ist, das sie verdienen. Weil sie oft nur freie Mitarbeiter haben, können die Nagelstudios günstiger sein als der Großteil der Konkurrenz. Dazu kommt, dass sie an Materialien sparen. Nägel kann man auf verschiedenste Weise verschönern. Eine der teuersten Varianten ist das Gel, das Frau Nguyen benutzt hat. Es ist nagelschonend und vergleichsweise gesund, aber um ein Vielfaches teurer als das Acryl, das in den meisten Billigstudios eingesetzt wird, das streng riecht und nicht selten aus den USA und Vietnam importiert wurde. In den teureren Studios wird in der Regel Material verwendet, das auf seine Verträglichkeit getestet wurde – und entsprechend mehr kostet. Vielen Kunden geht in diesem Fall günstige Schönheit vor Gesundheit. Sie wollen wenig zahlen, dazu kommt, dass die Acrylbehandlung nicht so lange dauert und die Nägel besonders fest macht.

Nach 40 Minuten leuchten alle zehn Nägel türkis. 30 Euro kostet das, bezahlt wird in bar. Auf den ersten Blick sehen beide Hände gut aus. Erst beim genauen Hinschauen sieht man, dass auf dem Daumennagel eine dickere Farbschicht als auf den anderen Nägeln ist, dass der Ringfinger einen helleren Nagel hat und dass an den Rändern Lack auf die Haut geraten ist. Die Nagelpflegerin sagt: „Schön, oder?“ und „Bis zum nächsten Mal!“ und reicht eine Kundenkarte über die Theke.

Wer im Internet nach Erfahrungsberichten zu Nagelstudios sucht, findet dort haufenweise Beschwerden von unzufriedenen Kundinnen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass Pfusch tatsächlich auffliegt, ist gering. Kontrollen vom zuständigen Referat für Umwelt und Gesundheit werden nur bei konkreten Beschwerden durchgeführt. Dann kommen Mitarbeiter der Behörde vorbei und überprüfen, ob die Geräte ordentlich desinfiziert und die Handtücher nach jedem Kunden gewechselt werden. Hält sich der Besitzer nicht daran und verstößt damit gegen das Infektionsschutzgesetz, gibt es eine Strafe von maximal 300 Euro – und eine Checkliste, was künftig zu beachten ist. Im Studio im Einkaufszentrum wird die Zange für die Nagelhaut nur einmal kurz mit Desinfektionsspray angesprüht, und das Handtuch bleibt nach der Behandlung liegen. Solche Details stören offenbar wenige Kunden: Im vergangenen Jahr gab es genau eine Kontrolle aufgrund einer Beschwerde in München.

„Wenn es nach uns ginge, könnte es dauernd Kontrollen geben, überall“, sagt Florence vom Nagelstudio „La Mano“. Warum, erklärt sie nach einem ersten, fassungslosen Blick auf die türkisen Nägel. „Das war ein Anfänger“, sagt ihr Kollege Babu. Seit 2003 haben die beiden ein Kosmetikstudio im Glockenbachviertel, einen kleinen, gepflegten Laden mit weißen Tischen und dunklem Parkettboden, in dem jeder Kunde persönlich begrüßt wird. Seit über 15 Jahren macht Babu, ein ehemaliger Tätowierer, Nail-Design. Er hat bei einem österreichischen Nail-Design-Weltmeister gelernt und seitdem immer wieder Schulungen besucht. Auch seine Partnerin Florence hat jahrelange Erfahrung und ist von der Industrieund Handelskammer zertifizierte Ausbilderin. Die beiden haben schon Bruce Springsteen bei einem Konzert in München die Fingernägel gemacht. Auf die vietnamesische Konkurrenz sind sie nicht gut zu sprechen. Nicht etwa, weil die ihnen mit niedrigeren Preisen Kundschaft wegnähme: „Klar gehen manche Menschen dorthin, vor allem junge Leute, die sich mehr nicht leisten können“, sagt Babu. Er und Florence hätten aber ohnehin eine gehobenere Stammkundschaft. Ein wirkliches Problem ist in ihren Augen ein anderes. Immer wieder säßen frustrierte Kunden in ihrem Studio mit ruinierten Fingernägeln, gelb, kaputt oder aufgerissen. Nicht selten kämen die aus Studios, wo sie für eine Maniküre nur die Hälfte dessen gezahlt haben, was sie im „La Mano“ kosten würde.

Was alles schieflaufen kann, erklärt er an den zehn türkisen Nägeln: Das Anschleifen mit einer elektrischen Feile ist nur in Ausnahmefällen üblich. Auch unmittelbar die Maniküre zu beginnen ist bei einem neuen Kunden fragwürdig. „Ein gutes Nagelstudio erkennt man daran, dass man am Anfang ein Beratungsgespräch führt, um zu klären: Was möchte der Kunde?“ Da kann es schon mal eine Stunde dauern, bevor der erste Lack aufgetragen wird. Denn: Jeder Mensch hat andere Nägel – Shellac beispielsweise verträgt nur, wer robuste Nägel hat. Und weil die Hygiene besonders wichtig ist, sollte jeder Kunde eine eigene Feile haben.

Die Schuld an der schlechten Arbeit, die in anderen Studios geleistet wird, trägt aus Sicht der beiden Studiobesitzer aber nicht die günstige vietnamesische Konkurrenz: Das Problem ist ihrer Meinung nach mangelnder Respekt vor der Arbeit. Es gibt zwar eine Ausbildung für Kosmetik und Weiterbildungsmöglichkeiten für Nageldesigner. Aber eine geschützte Berufsbezeichnung gibt es nicht. „Jeder denkt, man kann alles ganz einfach machen“, sagt Florence. „Eigentlich ist es ja ein Handwerk“, fügt ihr Kollege Babu an.

Von einer strengen Kontrolle könnten auch die Mitarbeiter der günstigen Studios profitieren – weil dadurch etwa die Arbeitsbedingungen kontrolliert würden. Nach zwei Jahren, in denen sie mit gekrümmtem Rücken fremde Nägel feilte, musste Frau Nguyen ihren Laden wegen eines Bandscheibenvorfalls schließen – und erzählt von einer Bekannten, die ihr ungeborenes Kind verloren hat, weil sie die giftigen Dämpfe während der Nagelpflege unterschätzt habe. „Die Arbeit“, sagt sie, „ist auf Dauer ungesund. Aber die meisten Menschen, die in den Nagelstudios arbeiten, haben eben keine Wahl.“

Verfasst zusammen mit Christoph Gurk, erschienen im Magazin BISS, Ausgabe 2/2014 – mit Fotos vonMagdalena Jooß.

Lea Hampel