Text • Süddeutsche Zeitung

Mit Kartoffeln gegen den Kapitalismus

Hohe Arbeitslosigkeit, junge Menschen ohne Wohnung und Zukunftsaussichten. Spanien leidet unter den Folgen der Wirtschaftskrise. Gleichzeitig entstehen neue Ideen, Leben und Arbeit in Einklang zu bringen und sich unabhängig vom Staat zu machen. Ein Besuch bei der Cooperativa Integral Catalana.

Der fliegende Bär sitzt am liebsten unterm Nussbaum und denkt nach. „Früher“, sagt er, „habe ich alles getan, um Geld zu verdienen. Dafür musste ich immer mit jemandem konkurrieren.“ Heute muss er das nicht mehr, heute geht er oft seiner Lieblingsbeschäftigung nach: nachdenken. Er ist füllig, fliegt aber geistig schnell, deshalb Oso, spanisch für Bär. Seit zwei Jahren lebt Oso, 38, in einem 1000 Jahre alten Steinhaus zwischen grünen Hügeln zwei Stunden nordöstlich von Barcelona zusammen mit unzähligen Hühnern, Hunden, Moskitos und sieben Männern.

Letztere tragen Tattoos, Ohrringe und an Kleidung nur das Nötigste. Man sieht ihrer Haut an, dass sie viel Zeit an der Sonne verbringen. Oso war früher Lagerarbeiter, heute backt er Pizza und baut Kartoffeln an. Mit seinen Mitbewohnern stellt er Gemüsebratlinge her, Nusscreme und Apfelmarmelade. Manche Lebensmittel verbrauchen sie selbst, anderes geht an weitere Mitglieder des alternativen Wirtschaftsverbunds Cooperativa Integral Catalana – eine der vielen Antworten auf die Krise, mit der das Land seit sechs Jahren kämpft.

Cooperativa Integral Catalana

Seit in Spanien die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen über 50 Prozent stieg, seit regelmäßig Menschen aus wirtschaftlichen Gründen Suizid begehen und Demonstrationen zum Straßenbild gehören, sucht diese Gesellschaft nach neuen Lösungen wie der Cooperativa. Mitgeschaffen hat sie Enric Duran, der 2008 als „Robin Bank“ bekannt wurde, weil er vorsätzlich Banken um Kredite betrog. Er lieh sich fast eine halbe Million Euro mit dem Vorsatz, das Geld nie zurückzugeben, sondern damit soziale Aktivitäten zu finanzieren. „Schon damals habe ich über Projekte nachgedacht, die das ganze Leben umfassen“, erzählt er am Telefon. Persönlich treffen kann man ihn nicht – er wird von der Polizei gesucht.

Miete, Strom und Ärzte lassen sich nur über einen klassischen Job bezahlen

Ein gesuchter Betrüger als Vorbild? Im Spanien der Krise funktioniert das. 2010 trommelte er erstmals Leute zusammen. Seine Vision: gemeinsam arbeiten und leben und so wenig wie möglich mit dem Staat zu tun haben. Der Riesenverein bietet seinen Mitgliedern vom Yogakurs über selbst angebaute Äpfel bis zur Rechtsberatung vieles, was sie brauchen oder begehren. Anfangs behandelten sie erst mal jeden Monat ein neues Thema wie Geld oder Essen. Allmählich entstand so ein Modell: Die Kooperative ist ein loser Verband, wer dazugehören will, zahlt einen Beitrag, kann aber selbst entscheiden, wie sehr er sich einbringt. Man kann anderen Mitgliedern die Haare schneiden, aber auch selbständiger Grafiker sein, der Rechnungen über die Organisation stellt. Abgerechnet wird nach außen in Euros, intern gibt es die Digitalwährung Ecos, für die jedes Mitglied ein für alle einsehbares Konto hat. Das Ziel ist, möglichst viele Produkte und Dienstleistungen innerhalb der Kooperative anzubieten. Weil die Organisation als gemeinnützig gilt, fallen auf die Produkte kaum Steuern an. „Wirtschaftlichen Ungehorsam“ nennt Enric Duran dieses Prinzip.

So sparen auch Selbständige Steuern, die gar nicht besonders politisch sind. Einer der Gründe für den großen Zulauf: Über 2000 Mitglieder hat die Initiative mittlerweile, der Jahresumsatz beträgt fast eine halbe Million Euro, die gegenseitigen Leistungen der Mitglieder nicht eingerechnet. Der enorme Zuwachs in nur vier Jahren hat praktische Gründe: Zum einen bietet die Kooperative Alternativen für Menschen, die sich das Leben in teuren Metropolen nicht leisten können. „Barcelona ist toll, aber nur wenn man Geld hat“, sagt einer von Osos Mitbewohnern. Nun verdient er sich seine Miete, indem er Marmelade kocht. Zum anderen ist die Kooperative eine konstruktive Antwort auf das diffuse Unwohlsein zahlreicher Spanier, das sich angesichts von Euro-Krise, Korruptionsskandalen im spanischen Königshaus und gefühlter Bevormundung durch Europa breitmacht. Wenn Oso und seine Mitbewohner an ihrem Tisch unterm Nussbaum sitzen, geht es oft darum, was faul ist im Staate Spanien, um „die da oben“, mit denen wahlweise EZB, NSA und „alle Manager“ gemeint sind. Alles Leben außerhalb der Cooperativa ist für sie „das System“.

Dass diese Art Auffangbecken funktioniert, zeigt nicht nur der Erfolg der katalanischen Kooperative. Längst gibt es Ähnliches in anderen Provinzen. Geht es nach Enric Duran, soll es langfristig ein Netz regionaler Initiativen geben, die die Mitglieder mit allem versorgen, was notwendig ist – ohne Staat, ohne Verwaltung, ohne kapitalistische Wirtschaft. „Andere arbeiten am politischen Wandel, wir am wirtschaftlichen“, sagt er. Die Ideen, die in der Kooperative zelebriert werden, sind gar nicht so weit weg von dem, was in anderen Gesellschaften und Milieus als Lifestyle-Trend gilt: regionale Produktion, Bürgerbeteiligung, teilen statt konsumieren. „Es wird einem immer vermittelt, es gäbe nur einen Weg im Leben – wir wollen zeigen, dass das nicht stimmt“, sagt Oso.

Dass es trotzdem schwierig werden könnte mit so einer Zukunftsvision, zeigt sich an der Cooperativa selbst. „Wir müssen groß sein, so war es von Anfang an geplant!“, sagt Gründer Duran. Transparenz und Basisdemokratie aber sind anstrengend und werden mit wachsender Größe immer schwieriger.

Cooperativa Integral Catalana

In der Küche, wo Oso und die anderen Marmelade kochen, hängen drei Pläne für Putzdienste, Kochdienste und andere Aufgaben im Haus. „Wir lernen“, sagt einer der jungen Männer und lacht. Das Wichtigste, was die acht Männer in den letzten zwei Jahren gelernt haben: „Wir müssen respektieren, dass jeder eine andere Art hat, Dinge zu erledigen.“ Auch sonst geht viel Zeit für Gespräche drauf. Regelmäßig fahren Oso und andere in die Zentrale der Kooperative in Barcelona, um an Sitzungen teilzunehmen, es geht um das interne Computersystem oder den Spüldienst. Auch die Abnabelung vom „System“ ist nicht schwer. Wenn Osos Auto kaputtgeht, ist der Mechaniker der Kooperative 250 Kilometer entfernt. Im Zweifelsfall zieht Oso deshalb den örtlichen Kfz-Betrieb vor und bezahlt in Euros. Für Miete, Strom und Ärzte haben viele tageweise einen Job „im System“.

Die Widersprüche sind klar: Wo führt es hin, wenn alle Spanier kleine Parallelwelten aufbauen, aber weiter auf öffentlichen Straßen fahren und öffentliches Trinkwasser benutzen, ohne Steuern zu zahlen? Das kann Oso nicht beantworten. Der fliegende Bär lobt einfach das Zusammenleben mit den anderen. Und verbringt eine weitere halbe Stunde damit, Hühner zu streicheln.

Erschienen am 25. Juni 2014 in der Süddeutschen Zeitung / Ressort Wirtschaft. Die Fotos stammen von Daniel Etter.

 

Lea Hampel