Mit der Erinnerung für eine andere Zukunft
Dana Golan, 26 Jahre alt, war bei der israelischen Grenzpolizei in Hebron. Heute reist sie als Vorsitzende der Friedensgruppe “Breaking the Silence” durch Israel, Europa und Amerika und erzählt von der Arbeit in der Armee.
Bis heute fehlen ihr Momente. Stunden und Tage sind aus Dana Golans Gedächtnis gelöscht. Und doch ist ihre Erinnerung ihr wichtigstes Arbeitsinstrument. Sie sitzt dann da, am liebsten im Schneidersitz, in ihrem Büro im Jerusalemer Stadtteil Talpiyot, auf Vorträgen in ganz Israel, Gesprächsrunden in Europa oder Amerika, und holt sich die Zeit vor neun Jahren ins Gedächtnis. Auf den ersten Blick ist sie eine normale Israelin: lange, dunkelbraune Haare, von der Sonne gebräunte Haut, große dunkle Augen. Sie trägt rosa Chucks und ein T-Shirt mit Glitzersteinchen. Alle zehn Minuten piept ihr Handy. Erst wenn sie den Mund aufmacht, wird klar, warum sie eine der am stärksten angefeindeten Frauen Israels ist. Dana Golan leitet die Organisation “Breaking the Silence”. Seit 2004 sammelt die Vereinigung ehemaliger Soldaten/innen Berichte von Rekruten/innen über ihre Zeit beim Militär. Gegründet wurde sie von Soldaten/innen, die in Hebron gedient hatten, dem Ort, vor dem sich jede/r Soldat/in fürchtet.
Als Dana Golan erfuhr, dass sie nach Hebron gehen sollte, war sie fast ein bisschen stolz. Schon vor ihrer Armeezeit wusste sie, dass sie zum “Educational Corps” wollte. Der Dienst in der Armee war für sie Teil ihrer Existenz als gute israelische Bürgerin, so hatte sie es in ihrer Kindheit in einem Dorf zwischen Jerusalem und Tel Aviv gelernt. Obwohl israelische Soldaten/innen sich ihre Stelle nicht aussuchen dürfen, wurde sie nach dem Eignungstest genau mit den Aufgaben betraut, die sie sich gewünscht hatte: Parties organisieren, Ausflüge planen, Feste für die jüdischen Feiertage veranstalten, Vorträge über Menschenrechte abhalten. In drei Monaten Training lernte sie, dafür zu sorgen, dass die Soldaten/innen Abwechslung haben. Bis der Anruf kam: Einsatzort Hebron. “Ich dachte, wow, ich bin tough, deswegen haben sie mich gewählt”, erzählt sie. Dass es keine einfache Arbeit würde, war ihr bewusst, als sie an einem Sonntagmorgen 2001 in Jerusalem in den Bus nach Hebron stieg. Dass sie nach wenigen Monaten um Versetzung bitten würde, ahnte sie nicht.
Der Ort, an dem niemand sein will
Hebron, 30 Kilometer südlich von Jerusalem, ist eine der wichtigsten Städte der Westbank. Zwischen 160.000 Palästinensern/innen leben dort 500 Siedler/innen, überwacht von 2.000 Soldaten/innen. Religiös ist die Stadt für Muslime wie Juden extrem bedeutsam. Blutige Auseinandersetzungen gab es daher schon in den 1920er-Jahren. Seit dem Goldstein-Massaker 1994, als ein extremistischer Jude 29 Muslime ermordete, patrouilliert eine internationale Beobachtertruppe durch die Stadt, die aufgeteilt ist in Zonen, die nur Araber oder Juden betreten dürfen. Sämtliches Leben, der Markt, die kleinen Läden, sind wie ausgestorben.
All das wusste Dana Golan. “Erst als ich dort war, habe ich wirklich verstanden, dass das der Ort ist, wo keiner hin will”, sagt sie heute. Dass die Arbeit anders war, als sie sich das vorgestellt hatte, stellte sie in den ersten Tagen fest. An einem vorbeifahrenden Armeejeep klebten Eierreste. Zunächst dachte sie, das seien Palästinenser gewesen. Bis ihr jemand sagte, dass die Siedler die Eier geworfen hatten. Von solchen Erfahrungen ließ sie sich da noch nicht einschüchtern. Nach vier Monaten veranstaltete sie die erste Party, zu Purim, einer Art jüdischem Fasching. Von den 350 Soldaten/innen kamen 5 Leute.
“Die nahmen mich nicht ernst”, erzählt sie. Längst hatten die Soldaten/innen ihren Alltag, in dem für Parties und Ausflüge kein Platz war. Der bestand aus Schichten. Das hieß: acht Stunden Schicht, Wache, Hausdurchsuchungen, gefolgt von acht Stunden, in denen die Rekruten/innen zur Basis fahren, sich waschen, schlafen, essen, Freunde anrufen und innerhalb derer sie wieder an ihrem Einsatzort sein mussten – für weitere acht Stunden Dienst. Zermürbend und grau. Immer wieder bekam Dana mit, wie Soldaten/innen aus den örtlichen Läden stahlen – wenige Tage später ein Ethikseminar zu halten, schien ihr lächerlich.
Und doch, sie wollte verstehen, warum diese Männer waren, wie sie waren. Sie wusste, dass sich nachts Einsatzgruppen auf den Weg machten, um palästinensische Häuser zu durchsuchen. Tagelang bat sie einen Offizier, mitkommen zu dürfen. Schließlich willigte er ein. Mitten in der Nacht fuhren sie los, zu einem Haus außerhalb des Zentrums. Ein kurzes Klopfen an der Tür, der Familienvater öffnete. In der Ecke gedrängt stand die Mutter mit den Kindern. Mechanisch, routiniert räumten die Soldaten die Sachen aus den Schränken, T-Shirts, Bettwäsche landeten durcheinander auf dem Boden, dazwischen wurden Fragen gestellt. Dana Golan wurde klar, dass sie zum ersten Mal in einem palästinensischen Haus war. Und dass sie sich zum ersten Mal schämte, die israelische Uniform zu tragen. “Als ich die Kinder in der Ecke anlächelte und sie nicht zurücklächelten, wurde mir klar: Für sie stehe ich auf der Feindesseite.”
Als der Offizier sie aufforderte, die Mutter zu durchsuchen, wurde ihr klar, warum er ihr erlaubt hatte, mitzugehen, nur Frauen dürfen Frauen durchsuchen. “Anfangs wusste ich gar nicht, was ich tun sollte. Ich habe Bewegungen imitiert, die ich aus dem Fernsehen kannte.” Während sie der Frau Arme und Oberschenkel abtastete, dachte sie darüber nach, wie sie sich fühlen würde in diesem Moment. Der Sohn stand in der Ecke und schaute ihr zu. “Ich konnte sehen, der hasst mich, und ich konnte es ihm nicht einmal übel nehmen.”
Heute erzählt Dana Golan offen von diesem Erlebnis, ihre Augen aufgerissen, wenn sie berichtet, wie ihr beim Wiedereinräumen der Regale die Pornos des Vaters in die Hand fielen. Ganz vollständig ist ihre Erinnerung an die Armeezeit noch nicht – ein Trick des Gehirns, den sie auch bei anderen Soldaten/innen beobachtet. An diesem Status der Erinnerung anzukommen, hat gedauert. Während der Wochenenden zu Hause konnte sie über ihre Erlebnisse mit ihren Freundinnen nicht reden. Auch nach der Versetzung, um die sie gebeten hatte – sie landete im größten Militärgefängnis des Landes -, dachte sie noch, dass sich all das erledigt haben würde in der Minute, in der sie ihre Uniform abgeben würde. Danach begann sie, in einem Cafe zu arbeiten, schließlich zu studieren. Bis eines Tages “Breaking the Silence” einen Vortrag an ihrer Uni veranstaltete. Als ehemalige Soldaten/innen von ihrer Zeit bei der Armee sprachen, “da kamen Erinnerungen hoch”, sagt sie und schüttelt den Kopf darüber, wie verwundert sie über ihr eigenes Gedächtnis war. Dennoch war sie überzeugt, sie habe nichts zu sagen. Was sie erlebt hatte, waren kleine Dinge im Vergleich zu dem, was die Männer durchgemacht hatten, fand sie. Bis ihr klar wurde, dass ihre Erfahrungen zwar nicht einzigartig waren. Aber dass es genau deswegen wichtig sei, sie zu teilen. Immer öfter stand sie selbst vorne, erzählte aus Hebron und sah, wie andere junge Menschen im Publikum die Stirn runzelten, weil ihnen das bekannt vorkam. Mittlerweile ist sie seit eineinhalb Jahren Geschäftsführerin der Organisation, einen Großteil ihres Alltags verbringt sie in dem Büro in einer in einer Wohnung in Talpiyot, an deren Tür mit Absicht kein Klingelschild angebracht ist.
Es gibt keine saubere Besatzung
Dass heute eine Frau an der Spitze der einst von Männern gegründeten Organisation steht, soll auch ein Zeichen sein. Lange Zeit glaubten viele Frauen, wie auch Dana anfangs, dass ihre Erfahrungen in der Armee im Vergleich zu denen der Männer “Kleinigkeiten” darstellten. Dass es auf diese Stimmen auch ankommt, dass eine weibliche Perspektive notwendig ist, betont Dana daher immer wieder, gerade, weil die Frauen oft versuchten, ihre vermeintliche weibliche Schwäche durch besondere Aggressivität auszugleichen. Zu Beginn dieses Jahres erschien daher erstmals ein Buch, in dem ausschließlich Berichte von Soldatinnen abgedruckt waren.
Oft ist es schwierig für Dana und die anderen Mitarbeiter/innen von “Breaking the Silence”, junge Männer und Frauen zu überzeugen, sich an diese Zeit zurückzuerinnern, davon zu erzählen. Mitarbeiter/innen der Organisation gehen ein Risiko ein – sie werden als “Landesverräter” bezeichnet, setzen sich massiver Kritik von Freunden und der Familie aus. Auch Dana Golan redet zu Hause nicht viel über Politik. Erst vor kurzem hat sie mit einem Freund, den sie lange nicht gesehen hat, eine Stunde über die Besatzung diskutiert. Seit sie 2009 Vorsitzende von “Breaking the Silence” wurde, hatte sie viele solcher Begegnungen. Sie sieht es als Teil ihres Jobs – und mehr und mehr als Teil ihrer Identität.
Dennoch, die Arbeit ist frustrierend. Stets muss sie sich rechtfertigen, wenn sie jemanden kennen lernt und nach ihrer Arbeit gefragt wird. Auch, dass es kein Maß für den Erfolg gibt, deprimiert sie. “Wir sind nicht so naiv, dass wir denken, dass wir von hier die Welt verändern können.” Ihr Ziel ist schwer messbar, denn was sie möchte, ist ein Bewusstseinswandel. “Es ist wichtig, zu zeigen, dass es keine ‘saubere Besatzung’ geben kann.” Um das zu zeigen, kramt sie gerne im Gedächtnis, auch wenn es gelegentlich wehtut.
Erschienen im Online-Magazin www.fluter.de – 7/2010.