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Kurzlebig, wenig wirksam und volkswirtschaftlich gefährlich: Das Prinzip Boykott

Gerade noch Amazon, jetzt Sodastream: Gerät ein Unternehmen in die Kritik, wird schnell der Ruf nach Boykott laut. Stefan Hoffmann, 36 Jahre, Direktor des Instituts für Betriebswirtschaftslehre an der Uni Kiel, erforscht Konsumentenboykotte. Er erklärt, warum es selten Sinn macht, im Supermarktregal zum Konkurrenzprodukt zu greifen.

Herr Hoffmann, verzichten Sie gelegentlich auf bestimmte Produkte?
Durchaus, in der Regel aus ethischen Gründen. Seit einiger Zeit boykottiere ich industrielle Fleischprodukte. Meist bin ich sonst nicht lang dabei geblieben. Damit bin ich nicht allein.

Woher kommt die Idee, durch Nicht-Kaufen zu protestieren?
Die Boston Tea Party gilt als ein Ursprung des Konsumentenboykotts. Damals wehrten sich amerikanische Siedler gegen Zölle der britischen Regierung. Entstanden ist das Wort, weil irische Landwirte 1880 dem britischen Landverwalter Charles Boycott einen Teil ihrer Ernte verweigerten. Der bekannteste Konsumentenboykott begann, als der Konzern Shell die Ölplattform BrentSpar in der Nordsee versenken wollte. Natürlich gibt es weitere berühmte Beispiele, etwa die Proteste gegen Nokia, nachdem das Unternehmen erst Subventionen erhalten hat und dann den Standort schließen wollte, oder Wiesenhof. In dem Fall hatten Medienberichte über Tierquälereien Kunden dazu gebracht, den Kauf zeitweise zu verweigern. Es gab zuletzt fast schon zu viele Boykotte, so dass die einzelne Wirkung verpufft.

Protestieren Kunden heute aus den gleichen Gründen wie früher?
Früher ging es um direkten Nutzen. Da haben beispielsweise Hausfrauen den Einzelhandel boykottiert, um zu verhindern, dass der Butterpreis steigt. Das hat sich verändert. Grundlebensmittel sind leicht erschwinglich, Rolle und Einkommen der Frau haben sich geändert.

Was lässt heute Kunden den Kauf verweigern?
Heute sind Boykotte eher politisch, sozial und ethisch motiviert – eine Reaktion auf schlechte Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzverlagerungen oder Tier- und Umweltskandale.

Und welche Ziele hat der Kunde, der nicht kauft?
Entweder will ich etwas ändern, meistens, wenn es mich selbst betrifft. Oder ich will einfach meine Werte ausdrücken. Manchmal will ich auch nur meinen Frust zeigen.

Mit dem Werbeauftritt der Schauspielerin Scarlett Johansson für das Unternehmen SodaStream wurde eine Kampagne bekannt, die seit 2005 unter dem Motto „Boycott, Divestment and Sanctions“ zum Boykott von Produkten aus Israel und der Westbank aufruft. Ist das ein typischer Fall modernen Kundenboykotts?
Viele Boykotte sind durch Politik bestimmt. Weil man ein Land an sich nicht boykottieren kann, werden die Unternehmen gewählt. Das gab es auch in den USA, wo während des Irak-Krieges 2003 Produkte aus Deutschland und Frankreich boykottiert wurden. Ob das Wirkung zeigt, ist eine ganz andere Frage.

Wann ist eine Kampagne denn wirksam?
Das hängt von den Zielen ab. Wenn das Ziel ist, dass sich ein Unternehmen oder ein Land ändert, sind die meisten Boykotte unwirksam. Kunden wissen häufig gar nicht, in welchem Land ein Produkt hergestellt wurde. Zudem sind Firmen und Herstellung über den Globus verteilt. Das Beispiel Shell ist bekannt geworden, weil es eine erfolgreiche Ausnahme bildet: Die Ölplattform wurde nicht versenkt. Aber die Organisatoren von Boykotten haben auch andere Ziele: Möglichst viele Teilnehmer beispielsweise, sinkende Umsätze für das Unternehmen oder ein Exempel zu statuieren. Wenn ein Standort geschlossen wird, kann meist nichts mehr dagegen machen. Aber der Boykott warnt andere Unternehmen: Wenn ihr das macht, brechen Eure Umsätze ein.

Sinken die Absatzzahlen von Unternehmen bei Boykotten signifikant?
Es gibt zwar Berichte, dass in Einzelfällen Absatzzahlen eingebrochen sind. Beispielsweise AEG Electrolux: Die Kunden haben den Boykott gestartet, weil Arbeitsplätze nach Osteuropa verlagert werden sollten. Man schätzt, dass der Umsatz in Deutschland um ein Fünftel eingebrochen ist. Aber schon nach sechs Monaten war die Empörungswelle abgeebbt. Den langfristigen Schaden kann man kaum messen.

Lag das am Boykott selbst oder der schlechten Presse?
Schlechte Schlagzeilen sind ein wichtiges Ziel. Berichte über Boykotte können einen nachhaltigen Imageschaden bescheren. Wenn sich langfristig in den Köpfen festsetzt, dass ein Unternehmen unethisch handelt, beeinflusst das Kaufentscheidungen.

Im Fall Shell haben auch die Junge Union und die Firma Tengelmann zum Boykott aufgerufen. Eignen sich Kundenboykotte besonders als populistisches Trittbrett?
Bei Boykotten geht es oft darum, Überzeugungen Ausdruck zu verleihen. Das gilt für das Individuum, aber auch für Organisationen, die sich so auf die Seite der Guten stellen.

Durch das Internet haben die Boykottaufrufe zugenommen, für fast jedes Unternehmen gibt es einen.
Ja, weil es einfach ist, sie zu starten und seine Bereitschaft zu erklären. Das heißt noch nicht, dass man sich tatsächlich sbeteiligt. Man kann das vergleichen mit Spendenaufrufen: Konsumenten, die einen Facebook-Like für einen Spendenaufruf vergeben, spenden weniger als andere, weil sie schon Zustimmung geäußert und sich „freigekauft“ haben. Bei Boykotten kann das genauso funktionieren.

Das ist also eine kurzlebige Protestform?
In der Forschung ist uns aufgefallen: Sobald ein Skandal passiert, geben viele Konsumenten bekannt, dass sie boykottieren möchten. Je länger ein Skandal dauert, umso mehr kühlt das Ganze ab – dann merken die Kunden, welchen Hemmnisse Boykott mit sich bringt. Im Fall Amazon gab es einen großen Aufschrei. Aber schnell haben Kunden festgestellt, dass es wenig Ersatz gibt. Wenn ich sicher und bequem aus einer großen Auswahl bestellen möchte, gehe ich eher nicht zu kleinen, alternativen Anbietern. Da wird einem der Boykott schnell weniger wichtig. Interessanterweise schafft man es meistens gut, das vor sich zu rechtfertigen und biegt sich die Argumente zurecht.

Sind Konsumentenboykotte in der Marktwirtschaft die beste Protestform – weil Konsum die direkte Waffe des Individuums ist?
Solcher Protest hat viel mit Kapitalismus zu tun. Man wählt über den Geldbeutel, der Konsum drückt unsere Identität aus, unseren politischen Willen und die Moralvorstellungen. Gleichzeitig vertraut man nicht mehr, dass über Parteien und Institutionen politische Entscheidungen so getroffen werden, wie man möchte. Man sucht andere Kanäle.

Aber es ist eine faule Form des Protests, weil man einfach etwas nicht tut.
Er wird meist als Einschränkung wahrgenommen. Boykottieren kann ich nur, wenn ich ein Produkt vorher genutzt habe. Ich bringe ein gewisses Opfer.

Aber es ist geringer, als wenn ich auf einer Demo im Regen stehe.
Natürlich. Ich habe auch keine Gefahr für Leib und Leben wie bei anderen Formen, meine Meinung auszudrücken.

Sodastream argumentiert, der Boykott gefährde Arbeitsplätze der beim Unternehmen beschäftigten Palästinenser. Wie häufig sind unerwünschte Nebenwirkungen?
Bumerang-Effekte sind gut möglich. Das gilt auch für Textilfabriken in Südostasien. Da stellt sich die Frage: Ist es gerechtfertigt, zu boykottieren oder nimmt man den Arbeitern das Letzte, was sie haben? Wenn ich beispielsweise Unternehmen boykottiere, die deutsche Standorte nach Osteuropa verlagern, könnte das bewirken, dass andere Investoren sich nicht mehr in Deutschland ansiedeln, weil sie wissen, dass die Boykott-Gefahr hier höher ist. Das kann man nicht messen, aber es kann zum Standort-Nachteil werden.

Wenn Boykotte nichts bewirken – gibt es Alternativen?
Der Boykott ist eine Bestrafungsaktion. Das Gegenteil, bei dem man Unternehmen, die sich sozial verantwortlich verhalten, belohnt, heißt „Buykott“ oder „Girlkott“. Ein Beispiel ist Fairtrade, wo man sagt: Das sind die Produkte, die man gezielt kaufen sollte. Die neueste Variante ist der Carrotmob, bei dem mit Unternehmen gezielte Kaufaktionen im Austausch für bestimmte Ziele vereinbart werden, beispielsweise die Kühlanlagen energieeffizienter zu machen. Das funktioniert gut auf lokaler Ebene. Aber eine langfristige Erziehungsmaßnahme ist es nicht.

Erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 25. März 2014.

 

 

 

 

Lea Hampel