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Jeder Meter ein Neuanfang

Sie gehen auf die Reise, die keiner antreten will: Verlustreisende stellen sich der Begegnung mit dem Abschied unterwegs – Schritt für Schritt.

Und dann weint er. „Ich habe meinen großen Sohn verloren, meine Frau ist tot – was ist, wenn nur ich übrigbleibe?“, fragt Erhardt*. Der Mann in der Trainingsjacke seines Lokalvereins spricht mit fränkischem Akzent. Hinter seinen dicken Brillengläsern schaut er in die Runde. Den anderen elf Personen am Holztisch im Besprechungsraum des Landhotels stehen Tränen in den Augen. Erhardt hat lange gebraucht, bis er über seine Angst sprechen konnte. Es ist der vorletzte Abend einer Reisegesellschaft, zu der keiner gehören will – und einer der wenigen Momente, der dem entspricht, was sich die meisten unter einer Trauerreise vorstellen: Menschen, die den Partner, ihr Kind oder den Job verloren haben, sitzen beisammen, und manche weinen.

Die Tui bietet Trauerreisen an, es gibt Segeltörns und Klosteraufenthalte für Trauernde oder, wie hier, im bayerischen Voralpenland, Wanderungen. Reisen für Menschen, die einen Verlust erlitten haben, gehören mittlerweile ins Standardrepertoire vieler Reiseanbieter. Noch vor zehn Jahren waren es vor allem Trauerbegleiter und religiöse Einrichtungen, die Reisen dieser Art anboten – als Reaktion auf die Feststellung, dass es Trauernden oft schwerfällt, alleine oder in Reisegruppen voller fröhlicher Menschen ihren Urlaub zu verbringen. Doch mittlerweile sind auch große Reiseanbieter auf den Trend angesprungen. Die Tui hat sogar ein eigenes Team für die Thematik.

Norbert Parucha, 58 Jahre, Lachfalten und von der Sonne gebräunte Haut, leitet seit 15 Jahren Reisen für das bayerische Pilgerbüro. Vor zwölf Jahren hat er auf dem Jakobsweg sein persönliches Trauerjahr beendet, 2004 kam ihm unterwegs die Idee, weniger Kilometer zu gehen, mehr Pausen zu machen und sogenannte Impulse – Gedichte, Gebete, Liedtexte oder Aphorismen – in die Wanderungen zu integrieren. Seit einiger Zeit bietet er Trauerreisen für das Pilgerbüro an; meist sind sie ausgebucht.

Aufbruch

„90 Prozent der Dinge, die wir im Alltag tun, tun wir unbewusst“, sagt er am ersten Morgen. Es ist Vorstellungsrunde. Im „Landhotel zum Metzgerwirt“ im oberbayerischen Bad Kohlgrub stehen Frühstücksreste auf den Kacheltischen. „Ich war vor zwei Jahren dabei und hatte Lust, die tolle Erfahrung noch mal zu machen“, sagt Erhardt zum Auftakt. Die Frau neben ihm, ihren Augen sind die vielen Tränen anzusehen, sagt: „Ich habe meinen Mann verloren.“ Als Einzige trägt sie einen schwarzen Pullover, die meisten haben Funktionsjacken an, nicht eben typische Trauerkleidung, aber das ist auch keine typische Trauergesellschaft. Jeder fasst in kurzen Sätzen zusammen, was ihn hergeführt hat.

Der Tag steht unter dem Motto Aufbruch. „Wenn ich aufbreche, lasse ich viel daheim zurück, Geborgenheit, Bekannte, Gewohnheiten“, sagt Parucha auf den ersten Metern der Wanderung. Im Nieselregen, „wie passend“, ist immer wieder zu hören, geht es entlang saftig grüner Felder zur Wieskirche, der bayerischen Pilgerstätte. Gemeinsam gehen die Wanderer durch die mit viel Gold geschmückten Kirchenräume. Eine Schwester hält eine Rede, es folgt ein Gebet, und danach geht es weiter in der regenfrischen Luft, erst jeder für sich, dann teilen die Ersten den Regenschirm. Es ist ein vorsichtiges Annähern, ein allmähliches Erzählen: Erhardt hat in den 80er Jahren seinen Sohn bei einem Motorradunfall verloren, nun ist seine Frau gestorben. Hartmut hat vor zwei Jahren drei Angehörige innerhalb von zwei Wochen beerdigt und vor drei Wochen seinen Bruder verloren. Gerda ist schwer krank und glaubt, dass sie bald stirbt. Christa wurde vor zehn Jahren von einem Tag auf den anderen von ihrem Ehemann verlassen. „Hier trägt jeder sein Päckchen“, sagt Hartmut.

Am zweiten Tag geht es das Hörnle hinauf, einen kleinen Berg im Süden Münchens. Es ist kein Zufall, dass heute die Nacht auf der Hütte ansteht, Norbert Parucha hat das so geplant, es ist wichtig für die Gruppe, erklärt er, den Berg hinauf, dann zusammen sitzen und über das Geschaffte sinnieren. Das Konzept geht auf: Nach dem ersten Rotwein wird viel gelacht, über Hartmuts schon nach zwei Tagen offenbarte Angewohnheit, warmes Bier zu trinken und über Holz zu reden und darüber, dass es nicht zufällig zwölf Wanderer sind, die hier in bunter Funktionskleidung durch den Regen gestapft sind – „Apostel“ sozusagen. Am nächsten Morgen hat der Regen die Wege schlammig gemacht, zwei Damen rutschen aus. „Das passt doch, durch den Schlamm zu waten“, sagen sie und lachen, als der vorbeifahrende Bauer meint: „Bei dem Wetter wandern nur die Städter.“

Dass dies eine etwas andere Reisegruppe ist, merkt man erst auf den zweiten Blick. Daran, dass die Teilnehmer nach 48 Stunden auf eine Art miteinander vertraut sind, die nur entsteht, wenn man das Schicksal des anderen teilt. Oder daran, dass Frauen gemeinsam Schnaps bestellen, lachend, „weil das Leben das nötig macht“. Und nicht zuletzt daran, dass die Frage „Wie geht es dir heute?“ selten die Tageslaune meint. Sätze wie „Du bist stark“ und „Das wird schon wieder“ fallen nicht, denn „die können wir alle nicht mehr hören“, sagt Liane, und Gisela nickt. Skeptisch waren vor der Reise viele Teilnehmer. „Des brauchst du net“, hat sich Rosina vorher gesagt, „die ziehen dich nur runter“, meinten Lianes Freunde.

Jeder der fünf Wandertage steht unter einem anderen Motto, „Selbstwert“ ist das, oder „Sehnsucht“, die Tagesziele passen dazu. Am Tag der Sehnsucht geht es auf einem Waldweg nach Schloss Linderhof, das Kloster Ettal steht auf dem Programm und das Passionstheater Oberammergau, Picknicken, Kirchenführungen, und im- mer wieder Gehen, mal durch Schluchten, mal auf Waldwegen, immer langsam und mit Pausen für Gedanken. Die Stationen des „Meditationswanderwegs“ hat Norbert Parucha ausgewählt. Jede Station ist mit einem Schild gekennzeichnet, unter den Überschriften „Überliefert“, „Vertieft“ und „Verinnerlicht“ ist erklärt, wie der Ort entstand, was er bedeutet und welchen Gedankenanstoß Norbert Parucha in ihm sieht.

Immer wieder gesellen sich Wanderer an seine Seite, während es durch Nadelwälder geht. Gertrud spricht mit ihm über den Verlust ihres Glaubens, Gerda erzählt von ihrer Krankheit. Parucha nickt viel, kommentiert wenig, und immer wieder sagen Einzelne über ihn: „Dem könnte ich stundenlang zuhören.“ Sprechen scheint auf dieser Reise wichtiger als jeder der Schritte. Immer wieder erzählt Hartmut, wie er abends vor dem Zubettgehen mit seiner verstorbenen Frau spricht, immer wieder erzählt Liane von ihrer Pellets-Heizung, die ohne ihren Mann nicht funktioniert.

Sehnsucht

Jeden Morgen liegt eine Spruchkarte auf dem Frühstücksplatz. Am vierten Tag steht darauf: „Mag man auch das Sehnen nicht haben, so sehne man sich doch wenigstens nach der Sehnsucht.“ Der Spruch ist von Meister Eckhart, andere Sprüche stammen von Indianerhäuptlingen und aus Gebetbüchern. Sie funktionieren, obwohl es auf den ersten Blick ein Leichtes wäre, sich über sie lustig zu machen. Das liegt am Reiseleiter, der seine besonnene Weltsicht vermittelt, die von Religion und Philosophie geprägt ist, ohne pathetisch zu wirken. Einst arbeitete Norbert Parucha in einer Versicherung, bis er feststellte, dass ihm Kunden am liebsten ihr Herz ausschütteten. Seitdem macht er Wanderungen und gibt Therapiesitzungen. Er beherrscht die Kunst, Fragen zu stellen und Denkanstöße statt Antworten zu geben. Auf der Reise vermittelt er jedem Teilnehmer das Gefühl: Es ist gut, dass du hier bist, und deine Art zu trauern ist in Ordnung.

Dass Reisen wie diese ausgebucht sind, zeigt zweierlei. Zum einen sind Menschen zunehmend bereit, sich in organisiertem Rahmen mit seelischen Problemen auseinanderzusetzen. Und zum anderen hat Trauer in der Gesellschaft offenbar zu wenig Platz. Hartmuts Angst vor der Einsamkeit nach dem Tod seiner Frau, Christas Trauer um ihren geplatzten Lebenstraum, Lianes Sorge, künftig allein ihre Kinder großziehen zu müssen – für solche Sorgen geben die Menschen im Alltag wenig Raum, an den schlechten Tagen, wo Trauernde weinen und schreien möchten, und an den guten, wo sie lachen möchten, ohne dafür verurteilt zu werden. „Als ich auf einer Party meines Volleyballvereins war, habe ich getanzt“, erzählt Liane. „Keiner hat was gesagt, aber ich weiß genau, dass manche getuschelt haben: Schau, die tanzt schon wieder.“

Es ist das Sich-nicht-erklären-Müssen, das die Reiseteilnehmer erleichtert. Hier kann jeder Tränen und Lachen im Sekundentakt abwechseln, „ohne dass jemand irritiert ist“, wie Rosina am letzten Abend feststellt. Und hier ist Raum für Fragen, die in anderen Runden für peinliche Stille sorgen: „Wie begehst du den Geburtstag deines Mannes?“, will Hartmut am ersten Abend wissen. Es ist Sonntagmorgen, und Menschen, die sich vor fünf Tagen nicht trauten, die Worte „Mein Mann ist gestorben“ laut auszusprechen, liegen sich in der Lobby des „Alphotels“ in Ettal in den Armen. „Ich habe das Gefühl, jedem hier alles sagen zu können“, hat die sonst sehr stille Petra am Vorabend gesagt. Nun geht es zurück in den Alltag, ohne den geliebten Menschen, und auch ohne die anderen Verlustreisenden. Und doch, als die letzten sich am Morgen zuwinken und in Funktionsleuchtfarben Richtung Bus schreiten, scheint es, als gehe es los, zumindest heute, Richtung Zuversicht.

* Namen teilweise von der Redaktion geändert

„Auf zu neuer Zuversicht“ ist eine Fünf-Tage-Wanderung des bayerischen Pilgerbüros in der Voralpenregion auf dem Meditationswanderweg, Infos unter www.bpb.de. Weitere Anbieter sind unter anderem „Wendepunkte Trauerreisen“, dort werden beispielsweise Segeltörns von einer Sozialpädagogin und Trauerbegleiterin angeboten (www.wendepunkte-trauerreisen.de). Ebenfalls auf dem Boot ist man mit dem nicht kommerziell ausgerichteten Anbieter Piet Morgenbrodt unterwegs, der „Care and Sail“ betreibt (www.care-and-sail.de). Klei- nere Gruppen und Klosteraufenthalte bietet „Zeit-Trauer-Raum“, Inhaberin Christa Samluck-Köpsel bietet auch Trauerbegleitung an (www.zeit-trauer-raum.de). Reisen innerhalb Deutschlands sowie beispielsweise nach Teneriffa veranstaltet „Trau Dich Reisen“ (www.traudichreisen.de). Auch große Anbieter wie Tui haben Trauerreisen im Angebot (www.reiseinsleben.de).

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Ressort Reise, am 18. November 2012.

Lea Hampel