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Hoffnung ist der Unterschied

Aleks und Mehmet sind zwei von Tausenden Bulgaren, die in den vergangenen Jahren nach München gekommen sind. Sie haben von Arbeit, einer Wohnung, einem guten Leben geträumt. Das ist, wenn man ohne Ausbildung aus einem fremden Land nach München kommt, nicht so leicht zu haben. Eine Langzeit-Reportage vom Kommen und Gehen

Aleks* und Mehmet sitzen auf den Metallstühlen der Cafékette „Coffee Fellows“ im Obergeschoss des Münchner Hauptbahnhofs. Aleks, der Schmächtigere der beiden, schaut müde hinter den dicken Gläsern seiner Brille mit schwarzem Rand hervor. Er hat jetzt, am frühen Nachmittag, schon einen ganzen Arbeitstag hinter sich. Während des Gesprächs blickt er sich unruhig um, er ist es nicht gewöhnt, tagsüber einfach im Café zu sitzen. Nicht zum ersten Mal heute sagt Aleks: „Nicht einfach.“ Dazwischen grinst er verlegen. „Nicht einfach“ sind für ihn seine Arbeit, sein Familienalltag, das Leben in Deutschland. Neben ihm sitzt Mehmet, sein Schwager, größer, runder, auch das Gesicht, mit funkelnden hellen Augen und raspelkurzen Haaren. Statt zu grinsen, lächelt er optimistisch. Auch er wiederholt einen Satz immer wieder wie ein Mantra: „Wir werden sehen.“

Aleks und Mehmet stammen aus Bulgarien. Seit 2007 ist ihr Heimatland Mitglied der EU, seit 2014 dürfen sie hier arbeiten, ohne eine Liste amtlicher Bescheinigungen einzuholen. Seitdem suchen immer mehr Menschen aus dem ärmsten europäischen Land in Bayerns Hauptstadt Arbeit und Unterkunft – eine Heimat. Wie Mehmet und Aleks gehören viele von ihnen zu der Minderheit der Türken, die knapp zehn Prozent der bulgarischen Bevölkerung ausmacht. In ihrer Heimat leben die türkischen Bulgaren überdurchschnittlich oft in ländlichen, strukturschwachen Gegenden. Nur etwa ein Viertel von ihnen macht Abitur oder studiert. Obwohl viele von ihnen sich stark mit Bulgarien identifizieren, wurden sie dort lange diskriminiert. Seit die Benachteiligung in den vergangenen Jahren wieder zugenommen hat, entscheiden sich immer mehr von ihnen, nach Deutschland zu kommen und dauerhaft zu bleiben. So auch Aleks und Mehmet.

Vor 2014

Aleks ist 15 Jahre alt, als er anfängt zu arbeiten. Damals lebt er mit seinen Eltern und den Großeltern in einem Haus in Jàmbol, einer Stadt mit rund 80.000 Einwohnern im Südosten Bulgariens. Tag für Tag hilft er seinem Opa in einer Fabrik Säcke schleppen. Bis er heiratet. Er wechselt in eine Großbäckerei, wird Vater. Als die Fabrik geschlossen wird, findet er keine andere Arbeit. „Alles war sehr trist dort“, sagt er rückblickend. „Sehr viele gingen fort, auf den Straßen waren kaum noch Menschen.“ Auch seine Eltern hatten Jàmbol schon Richtung München verlassen, als er 2011 selbst in einen Minibus steigt. „Aleks, du kannst herkommen, hier gibt es Arbeit“, hört er seine Tante am Telefon sagen. Als er in München ankommt, vermitteln ihm Bekannte ein günstiges Zimmer. Er teilt es mit fünf Fremden. Eine Zeit, die er mit nur einem Wort zusammenfasst: „schrecklich“. Seine Frau Vesi* kommt nach einem halben Jahr mit dem vier Jahre alten Sohn nach. Zu dritt leben sie bei seiner Mutter, bis ihm ein Bekannter eine Wohnung anbietet. Endlich Privatsphäre, aber nur gegen Bares. Die zwei Zimmer im Hinterhof haben keine Heizung, die Fenster lassen kaum Licht, aber viel Wind herein, und in der Küche ist gerade mal Platz für einen kleinen Tisch; der Teppichboden ist unter vielen Schritten dunkel geworden, an einigen Stellen blättert die graue Farbe von den Wänden. Aber für 650 Euro sind diese 50 Quadratmeter alles, was Aleks bekommt. Noch hofft er, dass es nur für den Übergang ist. Bekannte schenken ihm einen Tisch, eine rote, durchgesessene Ausziehcouch und ein leeres Regal – was er da reinstellen soll, weiß er nicht, schließlich besitzt er nur etwas Kleidung. Die Miete übergibt er monatlich, einen Beleg dafür erhält er nicht. „Wir waren wirklich verzweifelt auf der Suche“, sagt er. Irgendwann, in Zukunft, so verspricht ihm der Vermieter, bekommt er einen offiziellen Mietvertrag. Warum das unwahrscheinlich ist, erfährt er durch Zufall: Sein Vermieter gibt nur 400 Euro an den Eigentümer weiter. Die restlichen 250 Euro steckt er ein.

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Frühling 2014

In Bulgarien wird die Lage für Mehmet, Aleks’ Schwager, immer schwieriger. Er kann von den umgerechnet 200 Euro, die durch seine Arbeit als Landschaftspfleger und staatliche Unterstützung zusammenkommen, weder sich noch seine Familie ernähren. „Allein die Windeln kosten 15 Euro für zehn Tage“, rechnet er vor. Seine Schwester, Aleks’ Frau Vesi, erzählt ihm, dass das Leben in Deutschland gut ist, zumindest besser als in Bulgarien. Mehmet zögert trotzdem. Er mag Jàmbol, seine Tochter kann noch nicht einmal laufen, seine Frau hat Angst vor der Einsamkeit. Und er sorgt sich um seine Eltern: Seinem Vater geht es nicht gut, die Mutter arbeitet zu viel. Schließlich macht er sich doch auf den Weg. Er hofft, in Deutschland schnell Arbeit zu finden und seiner Familie Geld schicken zu können. Nach einem Jahr will er seine Frau und seine Tochter nachholen. Im April steht er bei seiner Schwester und seinem Schwager vor der Tür. In den zwei kleinen Zimmern sind sie fortan zu viert. Es ist eng; wenn jemand seine Ruhe will, geht er am besten spazieren. Doch immerhin findet Mehmet gleich Arbeit: Er heuert bei Aleks’ Arbeitgeber an, einem Türken, der eine Putzfirma betreibt. „Ein guter Mann“, sagt Mehmet. Jeden Tag stehen die Schwäger gemeinsam auf, essen eine Kleinigkeit am Küchentisch mit der Plastiktischdecke, Blumenmuster auf blauem Grund. Sie rauchen und gehen los – putzen. Mal in einem Büro, mal in einem Hotel oder Fitnessstudio. Es läuft gut an, „das wird schon“, sagt Mehmet. „Nicht einfach“, sagt Aleks – wie so oft. Denn Mehmet darf zwar mitputzen. Aber er hat noch keine Steuernummer, und einige Unterlagen fehlen noch, damit er einen Arbeitsvertrag bekommt wie Aleks. Und die Gänge zum Amt sind nicht einfach, das weiß Aleks längst besser als Mehmet.

Frühsommer 2014

Es ist Morgen, der Himmel leuchtet münchenblau, umso grauer wirkt das Finanzamt in der Deroystraße. Mehmet und Aleks 2014 stehen davor. Sie wirken aufgeregt, aber es ist Wochenanfang, der Warteraum mit dem blauen Linoleumboden ist leer. Trotzdem öffnet Aleks nur vorsichtig eine Tür zum Sprechzimmer. Die Wände des kargen Raumes zieren Hinweise zu Paragrafen, hinter zwei hohen weißen Tresen sitzen Frauen zwischen Papierstapeln. Aleks grinst verlegen. Er stellt sich hinter Mehmet, der setzt sein charmantestes Lächeln ein. „Hallo.“ Schon am kratzigen „H“ hört man, dass Deutsch nicht seine Muttersprache ist. Die Frau hinter dem Schalter sagt: „Steu-er-i-den-ti-fi-ka-tions-num-mer“, nicht nur deutlich, sondern auch so laut, als würde Mehmet nicht nur kein Deutsch verstehen, sondern wäre auch schwerhörig. Er dreht sich zu Aleks um, der nickt. Die Beamtin schiebt ein Papier über den Tisch, zeigt mit ihrem Finger auf eine Stelle. „Nummer Chef geben“, sagt sie und lächelt. Mehmet lächelt zurück, nickt eifrig, nimmt das Blatt. Dann ist Aleks dran. „Steuerklasse?“, fragt die Beamtin. Es ist ein Gespräch in Substantiven: „Frau in Bulgarien oder Deutschland?“, fragt die Dame. „Hier“, antwortet Aleks und zeigt gen Linoleum. Er lacht, als die Beamtin wissen will, ob das Kind seiner Frau zu ihm gehört. Nach fünf Minuten erhält auch er ein Papier, blassgrüne Felder auf Umweltpapier, die Überschrift: „Antrag auf Steuerklassenwechsel bei Ehegatten“, nächste Station Kreisverwaltungsreferat. Als sie sich auf den Weg machen, versucht es Mehmet doch auf Deutsch. „Danke“, sagt er. Und leise: „Tschuss.“

Sommer 2014

Im Schnitt 70 Stunden arbeitet Aleks in diesem Sommer pro Woche. Er ist Springer. Es gibt zwar Schichtpläne, aber wenn ein Hotel zusätzliche Reinigungskräfte braucht, klingelt sein Handy oft erst am Tag davor. Nein sagen kann er sich nicht leisten, er wird nach Einsatzzeit bezahlt. Die Schichten dauern bis zu 16 Stunden, in guten Monaten verdient er 1.700 Euro, doch vorab weiß er das nie, und übrig bleibt kaum etwas. Neue Kleidung, ein Restaurantbesuch, das gab es für ihn und seine Frau schon lange nicht mehr.

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„Ich versuche, nur für die Familie da zu sein und nichts Unnötiges für mich selbst auszugeben“, sagt Aleks. Er raucht weniger als früher, und das nicht aus gesundheitlichen Gründen. „Ich spare 150 Euro“, rechnet er vor. Nur seinem Sohn würde er am liebsten nichts abschlagen – umso härter ist es, wenn er das muss. Eine Zeit lang überlegen er und seine Frau, ob sie auch arbeiten sollte. Aber niemand kann auf den Sohn aufpassen. Seine Eltern sind im Rentenalter, putzen aber auch Vollzeit. „Bei uns dreht niemand Däumchen“, sagt Aleks. Einen Kindergartenplatz können sie sich nicht leisten. Sozialleistungen, auf die er Anspruch hätte, beantragt Aleks nicht. Erstens sind die Anträge kompliziert. Zweitens braucht er dafür Nachweise. Schon als er im Jobcenter um Unterstützung für die Miete bittet, ist das erfolglos: Ohne Vertrag kann er nicht nachweisen, wie viel er zahlt, ohne Nachweis gibt es keine Unterstützung. Aber noch etwas hält Aleks vom Gang zum Amt ab: „Ich will nicht, dass der Staat mich versorgt.“ Stattdessen sucht er einen Nebenjob. Zwei Stunden die Woche hätte er noch übrig. Doch als Bulgare ist es nicht leicht, Arbeit zu finden. „Ich stelle mich irgendwo vor, alles läuft gut, aber wenn jemand meinen Ausweis sieht, werde ich über einen Kamm geschoren mit Menschen, die klauen und schlechte Arbeit machen.“ Seit für Bulgaren und Rumänen die volle Freizügigkeit innerhalb der EU gilt, ist die Konkurrenz noch größer. Und Aleks versteht zwar Wörter, die er zum Arbeiten braucht: putzen, Fenster, Glühbirne, bitte, danke, hallo. Unterhalten kann er sich aber nicht. „Um 14 Euro die Stunde zu bekommen, musst du dich schon etwas besser verständigen können“, sagt er. Es gibt sogar einen kostenlosen Deutschkurs, aber da er keine festen Arbeitszeiten hat, kann er nicht regelmäßig teilnehmen. „Schon ein neues Wort pro Tag wäre gut“, glaubt er und versucht, unbekannte Begriffe auf seinem Handy nachzuschauen. Aber wenn er nach Hause kommt, ist er zu müde, um Vokabeln zu lernen. Bei dem Lärm zu Hause wäre das ohnehin nicht möglich. Bei drei Erwachsenen und einem Kind in zwei Zimmern ist keine Ruhe zum Lernen. Eines Tages gibt es Streit. Es ist warm, die Wohnung eng, alle sind genervt. Mehmet und seine Schwester geraten wegen einer Kleinigkeit aneinander. Und wegen Grundsätzlichem: Vesi ist schwanger. Die Vorstellung, bald zu fünft in zwei Zimmern zu wohnen, hält sie nicht aus – zumal ihr Sohn ab Herbst in die Schule gehen wird. Er braucht Ruhe für seine Hausaufgaben. „Irgendwann ging es nicht mehr“, sagt Aleks’ Frau.

Spätsommer 2014

Das findet Mehmet auch. Erst kommt er bei Bekannten für ein paar Tage auf der Couch unter. Er fragt Kollegen und Bekannte, ob sie ein Zimmer haben, doch den meisten geht es wie Mehmet: Sie wohnen zu mehreren auf wenigen Quadratmetern, haben keinen Platz für ein weiteres Bett oder nicht einmal einen Mietvertrag. Da er kein Deutsch kann, sind Internet-Portale keine Lösung – ganz abgesehen davon, dass er sich einem Vermieter, dessen Sprache er nicht spricht, nicht vorstellen kann. Zwischendurch ruft er zu Hause an, seine Frau erzählt ihm, wie die Tochter wächst, und fragt, wie es weitergeht. Er vermisst die beiden, seine Eltern, den Ort, wo „jeder Stein da ist, wo er hingehört“, wie er Heimat erklärt. Wochenlang übernachtet er mal beim einen Bekannten, dann beim anderen. Er will niemandem zur Last fallen, für eine Pension reicht sein Gehalt nicht. „Was soll man machen?“, kommentiert er seine Situation. Bei der DGB-Stelle für Arbeitsmigranten in der Schwanthalerstraße kann ihm Berater Savas Tetik auch nicht helfen, eine Wohnung zu finden – es gibt zu viele wie Mehmet. Von einem Bekannten hört Mehmet, dass eine Organisation, die soziale Einrichtungen betreibt, Bulgaren Fahrkarten in die Heimat bezahlt. Es ist Juli geworden, sein Chef versucht, ihn zum Bleiben zu überreden, doch Mehmet gibt auf, denn ein Dach über dem Kopf kann auch der ihm nicht besorgen. In Bulgarien sind schon fast Sommerferien, als er in einen Fernbus am Zentralen Busbahnhof an der Hackerbrücke steigt und die 18-Stunden-Fahrt zurück nach Jàmbol antritt. „Es ist schwer, aufzugeben – schließlich hatte ich geplant zu bleiben“, sagt er, „und meine Familie nachzuholen.“

Herbst 2014

„Schön, wieder zu Hause zu sein“, sagt Mehmet. Er grinst fröhlich, und trotzdem sind seine Augenringe sogar über den Bildschirm bei Skype deutlich zu erkennen. Seit er wieder in Bulgarien ist, ist das Leben schwieriger geworden als vor seiner Abreise. Zuerst hat er wieder in der Baumpflege gearbeitet, seinem alten Job. Dann musste der Vater wegen seiner Augenprobleme viermal ins Krankenhaus. Auf einem Auge sieht er nun nichts mehr, auf dem anderen nur noch 20 Prozent. Er kann nicht mehr arbeiten, aber die Operationen waren teuer, die Familie hat Schulden. Deshalb sind sie nach Sofia gezogen. Dort, in der kleinen Wohnung, stehen Mehmet und seine Mutter nachts um zwei Uhr auf, bereiten Teig zu und verkaufen tagsüber an einem Straßenstand Gebäck – eine einfache, aber harte Möglichkeit, Geld zu verdienen. Um vier Uhr nachmittags sind sie fertig. An guten Tagen verdienen sie 30 Euro – nicht viel, „vor allem, weil wir bald zu sechst sind“, sagt Mehmet. Seine Frau erwartet ihr zweites Kind, insgesamt sechs Menschen werden dann in dem einen Zimmer in der bulgarischen Hauptstadt wohnen.

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Auch in München sind es nur noch wenige Wochen bis zur Geburt. Aleks hat immer noch Sorgen, denn die Nächte werden kälter, eine Heizung hat er nicht. Auch vom Vermieter hat er nichts gehört. Vor einigen Tagen waren Menschen da, von welchem Amt, hat er nicht verstanden. Sie wollten wissen, wer hier wohnt. Er hat Angst, die Wohnung zu verlieren, bis sich herausstellt: Sein Vermieter hat zwei Monate lang die Miete nicht an den Eigentümer überwiesen. Statt ihm zu drohen, haben die Beamten Aleks Hilfe angeboten. Doch wie sollen sie helfen? Wird klar, dass er hier nicht offiziell wohnt, muss er eine neue Bleibe für seine Familie suchen – bei seinem Einkommen und für einen Nicht-Muttersprachler aussichtslos. Anrecht auf eine Sozialwohnung hat er auch nicht, und selbst wenn: Von den etwa 20.000 Sozialwohnungen der Stadt werden im Jahr nur etwa 2.000 frei, die Wartelisten sind lang.

Winter 2014

Mehmet bereut es, zurückgegangen zu sein. „In Deutschland ist alles viel besser“, sagt er. Was genau besser ist, kann er nicht sagen. „Ihr wüsstet, was ich meine, wenn ihr mal hier gewesen wärt.“ Im Schnitt 44 Prozent der Bulgaren leben unterhalb der Armutsgrenze. Das durchschnittliche Einkommen beträgt 350 Euro. Im Dezember sorgen zwei Menschen für Aufmerksamkeit, die sich aus Verzweiflung über ihre aussichtslose Lage öffentlich selbst anzünden. Aleks schüttelt den Kopf, wenn es um Mehmets Entscheidung geht. Warum sein Schwager aufgegeben hat, kann er bis heute nicht verstehen. Für ihn selbst käme es nicht infrage, zurückzugehen – 70-Stunden-Woche hin, kalte Wohnung her. „Eigentlich ist es immer noch ganz in Ordnung“, sagt er, als müsste er sich selbst überzeugen. Erst neulich hat er wieder von Bekannten gehört, die sich mit 14 anderen Arbeitern ein Zimmer teilen. Und das, wie die meisten in seiner Situation, trotzdem lieber tun, als zurückzugehen. Denn zum einen kostet der Weg Geld. Zum anderen gibt es eine Erwartungshaltung: Wenn man schon aus Deutschland zurückkehrt, dann nicht mit leeren Händen und nicht, um wieder der Familie auf der Tasche zu liegen.

„Die Situation dort ist sozial unerträglich“, sagt Savas Tetik, der für den DGB viele Tagelöhner aus Bulgarien berät. Die Lage in Bulgarien werde Jahr für Jahr schlimmer. Menschen, die dauerhaft zurückgehen, sind nach Tetiks Erfahrung eine Ausnahme – aber ebenso sind es Ausnahmefälle, in denen es Bulgaren in Deutschland dauerhaft aus dem Kreislauf prekärer Arbeits- und Wohnverhältnisse herausschaffen. Ein Leben, das „nicht einfach“ ist wie in Aleks’ Definition, ist es also in beiden Ländern. „Der Unterschied ist, dass es in Deutschland noch Hoffnung gibt“, sagt Tetik.

Aleks hält genau das: die Hoffnung, derzeit vor allem auf einen richtigen Mietvertrag. An die kleine, kalte Wohnung hat die Familie sich längst gewöhnt. Die Wintermonate übersteht sie mit einem Heizlüfter. Aleks’ Chef hat ihn der Familie geliehen. Es ist ein harter Winter. Nicht nur, weil die Wohnung kalt und zu eng ist für zwei Erwachsene, ein Schulkind und ein Baby. Sondern auch, weil der Ton in Deutschland rauer wird in diesen Wochen. Wenige hundert Meter von Aleks’ Wohnung ziehen sie durch die Straßen, Anhänger von Bagida, und verkünden ihre Meinung, dass Muslime, überhaupt Fremde, Menschen wie er nicht hierher gehören, dass sie ihnen Arbeitsplätze wegnehmen und „schmarotzen“. Aleks hat davon gehört, es macht ihn traurig. Aber zurückgehen nach Bulgarien? Auf keinen Fall. Warum nicht? „Wenn es Arbeit gäbe, würde keiner gehen“, sagt seine Frau. Doch Aleks schüttelt den Kopf: „Bulgarien ist kein Ort zum Leben.“

Frühling 2015

Es ist später Nachmittag. Mehmet und seine Mutter haben Feierabend. Auch heute sieht man ihm die Müdigkeit an. Im 2015 Hintergrund ist Kindergeschrei zu hören. Seine zweite Tochter ist vor wenigen Monaten auf die Welt gekommen, das Grinsen in Mehmets Gesicht wird bildschirmbreit, als er über Skype von ihr erzählt. Die Hoffnung, dass er eines Tages mit ihr, seiner anderen Tochter, Frau und Mutter zurück nach München kommt, hat er nicht aufgegeben. „Ich hätte so gern, dass die Kinder in Deutschland in die Schule gehen. Mal sehen“, sagt er und lächelt, nicht mehr ganz so fröhlich wie vor einem Jahr im Café am Haupt bahnhof. Noch einmal würde er nicht aufgeben. „Wenn ich die Chance hätte, noch mal in Deutschland zu sein – ich würde nicht wieder weggehen, selbst wenn ich auf der Straße leben müsste.“

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„Es ist nicht das Leben, von dem ich geträumt habe“, sagt Aleks. Es hat gedauert, bis er diesen Satz aussprechen konnte. Aber wovon träumt er? Es dauert. Dann erzählt er: Manchmal, wenn er nicht gerade putzt oder mit seinem Sohn spielt, überlegt er, wie es wäre, zu studieren. Er interessiert sich für Informatik und Musik, schreibt ein Blog über Musik. „Das Beste ist wohl, wenn man einen Job hat, den man mit Leidenschaft macht – das kann ich von meinem wirklich nicht behaupten.“ Und er hätte gern ein Haus, für sich, seine Frau, die Kinder, vielleicht sogar seine Eltern. Er war schon bei der Bank. „Aber bei 650 Euro Kreditrate ist nichts zu machen.“ Dass er demnächst mehr zur Seite legen können wird, ist unwahrscheinlich. „Und ob ich noch 40 Jahre solche Arbeit durchhalte, auch“, sagt er. Zumal die Ausgaben der Familie steigen: Im Dezember ist seine Tochter geboren, in der Klinik in der Maistraße. Die beiden hatten Glück: Eine Türkisch sprechende Putzfrau hat übersetzt, was Ärzte und Hebammen gesagt haben. Alles ist gut gelaufen. Aber für Aleks bedeutet es auch: ein Mund mehr, der gefüttert werden, ein kleiner Mensch mehr, der versorgt werden muss. Er freut sich, dass seine Tochter in Deutschland geboren ist, hier zur Schule gehen wird. „Daheim ist schließlich, wo man gut arbeiten und leben kann.“ Gerade scheint es keines zu geben: Zu Hause in Bulgarien kann Mehmet gut leben, aber nicht genug arbeiten. Hier in Deutschland kann Aleks gut arbeiten. Aber ein gutes Leben? Das sieht anders aus.

Bulgaren in München
Im Jahr 2013 sind über 2.000 Menschen aus Bulgarien offiziell nach München gezogen. Diese Zahl ist jedoch nur bedingt aussagekräftig, da viele der Zuwanderer sich nicht ummelden. Noch gibt es die offiziellen Zahlen für 2014 nicht. Interessant ist aber, dass beispielsweise allein im Winter 2013/2014 fast ein Viertel der Menschen, die in der städtischen Kälteschutzunterkunft unterkamen, aus Bulgarien stammte.

Erschienen im Magazin BISS, Ausgabe Juni 2015. Die Gespräche hat Eliza Encheva übersetzt, die Fotos stammen von Matthias Kestel.

Lea Hampel