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Großer Bär, was nun?

British Columbia ist voller Bären: Aus Schokolade, Holz und auch als Kuscheltiere sind sie erhältlich. Aber jeder will die echten sehen. Das ist viel schwerer, als man denkt

Kurzes Erstarren. Er steht da, der Bär. Und schaut her. Was noch mal tun? Rückwärts gehen? In die Augen schauen wie beim Hund? Moment – warum schimmert der so?

Aufatmen. Er ist doch nur aus Metall, am unteren Ende des Wasserfalls neben der Outdoor-Dusche des Hotels. Ohne Kontaktlinsen sieht er im Morgennebel verdammt echt aus. Ist ja nicht abwegig. Ganz British Columbia ist von Bären bevölkert: Aus Milchschokolade starren sie hinter der Theke des Süßwarenladens hervor, als Schnitzerei thronen sie über der Einfahrt eines Ressorts, als Kuscheltier zieren sie das Regal im Souvenirladen. Bären, vor allem unechte, sind überall. Bei den echten dagegen wird es schon schwieriger. Um die in freier Wildbahn zu sehen, kommen zwar immer mehr Menschen nach Kanada. Aber, so sagt es Tourguide Francisco gleich nach der Begrüßung: “Es hängt alles am Wetter, den Tieren – und den Erwartungen.” Was er meint, ist: Um in British Columbia einen schönen Urlaub zu haben, muss man nicht unbedingt einen echten Bären gesehen haben. Was man als Tourist versteht, ist: Je weniger man einen Bären erwartet, desto höher die Chancen, einen zu sehen.

Vor allem hier, im Wildnis-Luxusressort Nimmo Bay. Die neun Holzvillen, die Franciscos Arbeitsplatz bilden, liegen dort, wo einer der am besten erhaltenen Regenwälder der Welt auf Ausläufer des Pazifiks trifft: an der Westküste Kanadas. In einer Bucht reihen sich die roten Dächer nebeneinander an der Kante zwischen Bäumen und Wasser. In den 1970er Jahren suchte Holzarbeiter Craig Murray für seine Familie einen Ort für Zusammenkünfte in der Natur: Mit seiner Frau kaufte er ein schwimmendes Haus und befestigte es in Nimmo Bay. Was als Freizeitvergnügen gedacht war, wurde eine Geschäftsidee. 1980 schließlich wurde die Lodge gegründet; Hunderte Gäste aus Kanada, den Vereinigten Staaten und Europa sind seitdem gekommen. Lange nahmen sie den Weg über Luft und Wasser vor allem auf sich, um zu angeln: Mit dem Helikopter brachte ein Guide die Gäste morgens an abgelegene Wasserstellen, abends saßen sie ums Feuer, aßen den Fang und tauschten Abenteuergeschichten aus. Doch über die Jahre änderte sich die Umgebung und damit das, was die Murrays tun. Beobachten statt besitzen wird mehr und mehr das Motto.

Mitte der neunziger Jahre wird der umgebende Regenwald zum “Great Bear Rainforest” umbenannt, seit Februar diesen Jahres ist er Schutzgebiet; auf dem überwiegenden Teil der 32 000 Quadratkilometer ist gewerbsmäßiges Abholzen verboten. Und damit ändert sich auch das Geschäft von Nimmo Bay: Spätestens seit Craigs Sohn Fraser 2011 die Geschäfte übernommen hat, verbringen Gäste ihre Tage immer öfter damit, zu beobachten, statt zu töten. Mal Wale, mal Lachse, und immer öfter: Bären.

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Der Bär, einerseits beliebtes Kuscheltier, andererseits gefährliches Raubtier, fasziniert. Doch während sich an anderen Orten der Welt die Menschen die Nase an Zoogattern plattdrücken, kann in British Columbia von der Taxifahrerin über den Fluglinienmitarbeiter am Regionalflughafen bis zur Hotelrezeptionistin jeder eine für europäische Städter fast zu aufregend klingende Bärenstory erzählen: von dem Bekannten, der seinen Kühlschrank im Ferienhäuschen mit einem Vorhängeschloss versehen hatte, nur um herauszufinden, dass das den Tieren weniger Hindernis und mehr Ansporn war. Oder von der Frau, die ihr Auto aufgebrochen fand, nachdem sie auf dem Rückweg vom Einkaufen bei einer Freundin haltgemacht hatte und die Lebensmittel im Kofferraum gelassen hatte. Dass das mehr sind als nur Legenden, beweisen die Mülleimer an jedem Parkplatz: Deren Öffnungsmechanismen sind so kompliziert, dass es nicht nur dem Bären schwerfällt, Müll daraus zu mopsen, sondern auch dem Menschen, ihn überhaupt erst reinzuwerfen.

Und während vor allem die weitverbreiteten Schwarzbären noch für lustige Anekdoten taugen, waren unter den zottligen Mitbewohnern vor allem die Grizzlys lange hauptsächlich eine Quelle der Angst. Doch wie es stets ist: Was uns gruselt, macht uns neugierig. In Nimmo Bay stand Bärenbeobachtung von Anfang an auf dem Programm für Besucher. Vor allem in den letzten Jahren, sagt Francisco, der in Nimmo Bay arbeitet, interessieren sich immer mehr Gäste dafür – drei von vier Gästen haben Bären auf ihrem Wunschprogramm. So wie in Afrika die Zahl der Fotosafaris zunimmt, kommen auch in Kanada immer mehr Menschen, um Natur zu sehen. In Zeiten, in denen sich jeder die Großaufnahme vom Grizzly ergoogeln kann, wird die Erfahrung, ihn wirklich gesehen zu haben, zum Statussymbol. Über die Jahre hat die Familie Murray Konkurrenz bekommen: Tide Rip Grizzly Tours, Grizzly Bear Safari Tours, “Bear Watching”. Wer Bären sehen möchte, hat mehrere Dutzend Angebote.

Dabei stehen alle vor dem gleichen Problem. In Nimmo Bay konnte jeder am Abend sagen, was er am nächsten Tag machen möchte. Nach drei Gängen und vielen Gläsern Wein kommt Francisco an den schweren Holztisch derjenigen, die sich fürs Bärenbeobachten entschieden haben: “Eines möchte ich klarstellen”, sagt er ernst: “Es gibt keine Garantie.” Ob man einen Bären sehe, sei Glückssache, alles, was er tun könne, wäre, dorthin zu führen, wo es wahrscheinlich sei. Denn Bären gibt es zwar viele – aber sie warten nicht auf Touristen: Viele fliehen, wenn sie Risiko fürchten, vor allem wenn sie Junge haben. “Wir versuchen unser Bestes, aber man weiß nie”, sagt Francisco.

Geschichten von enttäuschten Touristen kann er einige erzählen: Manche, glaubt er, hätten am liebsten eine Bärengarantie – so, wie es früher war, wenn Herrscher jagen gingen und ihnen die Tiere vor die Flinte getrieben wurden. Andere sagen vorher, dass sie wissen, dass man an die Natur keine Erwartungen haben darf. Beim Abendessen ziehen sie trotzdem lange Gesichter, wenn die anderen von ihrem Gletscher-Ausflug oder ihrer Waltour erzählen, sie aber nur einen langen, bärenfreien Boots- und Waldausflug hinter sich haben. Doch es ist auch verflixt: Den Bären nicht zu erwarten, wenn man seinetwegen hier ist, ist nur in der Theorie einfach. Praktisch lässt es die Bootsfahrt, die von den Häuschen von Nimmo Bay tiefer in die Wasserverzweigungen und damit mehr Richtung Bärengebiet geht, verdammt lang erscheinen. Immer wieder zückt Francisco das Fernglas, jede Bewegung am Waldrand sorgt für Raunen im Boot, erahnt jemand braunes Fell in der Ferne, wird der Motor ausgemacht und zur Ruhe ermahnt. Ist das vermeintliche Stück Fell doch nur ein Stück Baumstumpf, sagt Francisco: “Aber was für ein schönes Wetter!” Und setzt nach: “Du musst nehmen, was die Natur dir gibt.”

Also gut, tief durchatmen, der Himmel ist blau, die Bäume unfassbar grün, sehr schön ist es hier, was will man mehr? Bloß nicht an den Bären denken, lieber über die Nachmittagssonne freuen, als es raus aus dem Boot, rein in den Wald geht. Und kaum betritt man das Moos, ist er doch da. Der Bär. In knapp 50 Meter Entfernung steht er zwischen zwei Bäumen. Er schaut kurz hoch, checkt die Lage. Dann trottet er weiter, und die Wandergruppe läuft langsam parallel durch den Wald, gelegentlich ist ein Knacken aus der Ferne zu hören, kurz möchte man sich kneifen: Ja, das da hinten ist wirklich ein Grizzly, zwischen ihm und uns gibt es keinen Zaun, und jetzt geht er futtern, und man darf zuschauen. Während der Bär gemütlich einen Lachs auseinandernimmt und sich die Sonne auf den dunklen Pelz scheinen lässt, stehen acht Erwachsene stumm da. Keiner zückt ein Smartphone, keiner spricht, alle paar Minuten geht jemand ein paar Meter weiter vor, um den Waldbewohner genauer zu beobachten. Der hebt kurz den Kopf, bevor er davontrottet, schaut er fragend in Richtung der Beobachter. “Wie bestellt”, flüstert Francisco und feixt. “Aber erzähl jetzt bloß nicht allen, dass das immer funktioniert!” Natürlich nicht.

Erschienen im Reiseteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 9. Oktober 2016, die Fotos stammt von Jeremy Koreski.

Lea Hampel