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Gluten Tag

Urlaub ohne Bauchweh oder selbst mitgebrachte Lebensmittel ist keine Selbstverständlichkeit für Menschen mit Zöliakie. Ein Ort im Allgäu hat das als Marktlücke erkannt – und macht ein gutes Geschäft mit der Glutenfreiheit. 

Es war das Jahr 2005, und Scheidegg war, was es seit Jahrzehnten war: ein kleiner Ort im Kreis Lindau, aufgeteilt auf 39 Ansammlungen an Bauernhäusern, Gasthöfen und Kuhställen – ein Ferienort wie viele andere in Süddeutschland, mit gutem Klima und Stammgästen, über die bayerischen Grenzen hinaus lediglich bekannt für seine fünf Kliniken und die Langlaufloipen. Das hätte so bleiben können. Bis vor acht Jahren Monika Draga mit ihrem Wohnwagen ins Westallgäu gerollt kam. Draga, die man hier auch den Bill Gates von Scheidegg nennt, kam mit einem Plan: Sie übernahm die Pacht des Wohnmobilstellund des Minigolfplatzes und begann, im Kiosk das zu verkaufen, womit sie sich auskennt: glutenfreie Produkte.

Draga ist seit vielen Jahren an Zöliakie erkrankt, einer chronischen Darmentzündung, die durch das in Getreide auftretende Klebereiweiß Gluten verursacht wird und zu Nährstoffmangel und Depression führen kann, bei den meisten Betroffenen jedoch jahrelang unerkannt bleibt. Steht die Diagnose einmal fest, erfordert Zöliakie bei Betroffenen eine radikale Umstellung der Ernährung: Brot, Nudeln und Salatsoßen, alles muss sorgfältig ausgewählt werden, Gluten ist in vielen Lebensmitteln vorhanden und kann in kleinsten Mengen Beschwerden verursachen.

Glutenfreier K‰se in der Sennerei Bremenried

Gluten? Glutenfrei? Zöliakie? Mit ihrem Angebot stößt die „Zuagroaste“ Monika Draga auf Skepsis. „Viele dachten, das ist eine Modekrankheit aus Amerika oder eine Diät wie die von Atkins“, erinnert sich Elke Göhlert von der Kurverwaltung, „eben wieder so etwas Neues, das die Leute haben müssen.“ Doch davon ließ sich Draga nicht abhalten, der Kiosk war nur der Anfang. Ein glutenfreier Ort war ihr Ziel, sie sprach beim Bürgermeister vor, mit guten Argumenten: Ihr Angebot hatte sich nach kurzer Zeit herumgesprochen, immer mehr Menschen kamen zu ihr, um Produkte zu kaufen oder Urlaub zu machen, ohne vorher Kisten mit Speziallebensmitteln zu packen. „Das ging rasend schnell“, erinnert sich Elke Göhlert. Nach kurzer Zeit hatte Monika Draga einen Laden im Kurhaus und begann, im Gemeinderat und bei Wirten für die Idee von glutenfreien Gerichten zu werben.

An diese Zeit kann sich Hermine Eller gut erinnern. Auch sie war damals skeptisch. Seit Jahrzehnten betreibt sie mit ihrem Bruder das Landhotel „Ellerhof “, ein traditionelles Haus mit Kiefernmöbeln, karierter Bettwäsche und Bergaussicht im Ortsteil Hagspiel. In ihre Stube mit niedriger Decke, alten Dielen und Spitzenvorhängen kamen die Gäste wegen alter Allgäuer Gerichte wie Krautfleckerl oder Brennter. „Magenschonend“ ist da das letzte Kriterium. Doch immer wieder fragten Gäste nach glutenfreiem Essen. „Anfangs dachte ich, das wäre mehr Aufwand.“ Nach dem zehnten Zöliakie-Patienten erkannte sie die Chance. Sie ließ sich schulen, studierte Fachbücher und schickte ihr Küchenpersonal in Seminare. Seitdem hält sie spontane Kurzreferate, ob ein Emulgator Gluten beinhaltet und modifizierte Maisstärke erlaubt ist, ob ZöliakiePatienten Hafer vertragen oder nicht.

Es ist Morgen. Auf der alten Kochmaschine, die in der Stube des „Ellerhofs“ einst Herd, Backofen und Heizung war, steht das Frühstücksbuffet angerichtet, Brotscheiben, gekochte Eier, Himbeeren und Kirschen in kleinen Glasschalen, Marmelade und Joghurt. An den Tischen stärken sich Touristen für den Wandertag. Hermine Eller eilt durch den Gastraum, um Kaffee nachzuliefern, da hält eine Frau sie an: „Ist der Frischkäse glutenfrei?“, fragt sie. Hermine Eller wirft einen kurzen Blick drauf, sagt: „Ja, ganz sicher.“

Es war ein weiter Weg bis heute, wo die Wirtin besser als mancher Gast Bescheid weiß, dass sogar Schinken Gluten enthalten kann und nicht jeder Ketchup glutenfrei ist. Nach all den Seminaren stand die Frage: Wie die alten Allgäuer Rezepte so zubereiten, dass auch Zöliakie-Patienten sie essen können? Wie die Tradition aufrechterhalten und trotzdem modernen Tourismus betreiben? Zwischen damals und heute liegt jahrelanges Experimentieren: Was ersetzt das Weizenmehl in Pfannkuchen, wie serviere ich Salat, was kann es zum Frühstück geben für Gäste, die normales Brot nicht vertragen, und vor allem: Wie mache ich Kässpätzle ohne Weizenmehl? Die Frage nach den neuen Rezepten beantwortet sie bis heute lieber nicht. „Jeder hat seine Tricks“, sagt sie und wiegt den Kopf hin und her.

Stattdessen präsentiert sie das Ergebnis. Stolz stellt sie zum Abendessen einen Korb mit Semmeln und Brotscheiben auf den Tisch. „Des isch gud, nicht?“ Tatsächlich, das Brot ist außen knusprig, innen weich und schmeckt leicht nach Malz. Hermine Ellers ganzer Stolz kommt gleich hinterher: glutenfreie Kässpätzle. Die waren besonders schwierig, doch sie schaffte auch das. Sie schmecken weich, buttrig und leicht salzig, wie es sich gehört, mit viel Käse und Röstzwiebeln. Und weil Kinder unter Zöliakie besonders leiden, hat Hermine Eller auch Pfannkuchen ohne Gluten entwickelt.

2 Scheidegg lh

Mittlerweile ist der „Ellerhof “ einer von über dreißig Anbietern, bei dem man in Scheidegg glutenfreie Produkte bekommt. Von Pasta im Reformhaus über Torten im Kurhaus bis zu Brot vom Bäcker „Tyl“ – in den Restaurants sind die Gerichte gekennzeichnet, oder es gibt eine Karte für Glutenfreies, in den Supermärkten eigene Regale. Nicht alle waren so leicht zu überzeugen wie Hermine Eller. Nachdem die Gemeinde sich für das Projekt ausgesprochen hatte, stand der offizielle Teil bevor: Weil Zöliakie-Patienten oft auf uninformierte Anbieter stoßen, sind Siegel wichtig. Im Mai 2010 fand in Scheidegg der Welt-Zöliakie-Tag statt, mittlerweile haben viele Wirte Zertifikate der DZG, der Deutschen Zöliakie-Gesellschaft, jedes Frühjahr gibt es Gluten-Infotage. Seit vier Jahren findet einmal im Monat ein glutenfreier Kochund Backkurs im „Haus zur Sonne“ statt, zusätzlich ein Gesprächskreis mit einem Diätassistenten, beide sind gut besucht. Sogar Ferienwohnungen sind auf die „Gluten-Gäste“ ausgerichtet: In vielen Apartments sind Schüsseln, Töpfe und Mixer eigens beschriftet – Mehlpartikel reichen, um Symptome auszulösen. Dieser Aufwand ist nötig, denn glutenfreies Kochen ist fast so kompliziert wie streng koschere Küche.

Warum die Scheidegger den Aufwand betreiben, verrät ein Blick in die Dorfgeschichte: Einst lag der Ort in einem viel besuchten Langlaufgebiet, dann kam der Klimawandel, nun bleibt der Schnee aus. Heilklimaort darf sich Scheidegg zwar noch nennen. Aber „mit den Jahren haben wir aufgehört, in unseren Katalogen Schnee zu zeigen“, erklärt Elke Göhlert von der Kurverwaltung. Also suchte man nach anderen Verkaufsargumenten. Der obligatorische Superlativ ward gefunden: Scheidegg wurde mehrfach sonnenreichster Ort Bayerns oder gar Deutschlands, 1846 Sonnenstunden gab es 2013. Doch: „Sonnenterrasse überm Bodensee“ klingt zwar schön, bringt aber nicht unbedingt mehr Touristen. Es folgten andere Versuche, um sich von benachbarten Orten zu unterscheiden: einen Baumwipfelpfad können Besucher besteigen und den Reptilienzoo besichtigen, einen Kapellenweg entlangwandern, eine Sennerei besichtigen und an Kräuterwanderungen teilnehmen.

Heute scheint all das eher Beiwerk für den erfolgreichsten Schachzug, die Umstellung auf glutenfreie Angebote. Die Zahl der Gäste ist gestiegen, jeder Zehnte kam für die glutenfreien Speisen, bei Hermine Eller ist es im Sommer gar jeder dritte Gast. Noch ist Scheidegg schließlich der einzige Ort in Deutschland, wo das Angebot so breit ist. In Internetforen für Zöliakie-Betroffene schwärmen Mütter vom ersten stressfreien Urlaub. Mit dem Erfolg sind die letzten kritischen Stimmen verstummt. Manchmal scheint es, als könnten die Scheidegger ihr Glück selbst nicht fassen. Wenn der zweite Bürgermeister und der Tourismuschef bei – nicht ganz so glutenfreiem – Weißbier auf den Erfolg anstoßen, fällt in einer schwäbischen Mischung aus Selbstironie und Größenwahn auch mal der Vergleich mit Microsoft. Nur: Der „Bill Gates von Scheidegg“ redet da nicht mehr mit. Monika Draga hat den Ort 2009 verlassen.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Ausgabe 19, vom 11. Mai 2014.

 

Lea Hampel