Text • Galore Magazin

Fünf Wochen Ohnmacht

Sommer 1989. Fünf Wochen verbringt Norbert Krebs im damaligen Staatssicherheitsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Fünf Wochen, die den Rest seines Lebens prägen. Heute führt Krebs Besucher und Schulklassen durch die Räume, in denen er gefoltert und erniedrigt wurde.

Einmal auf der anderen Seite sitzen, davon hatte Norbert Krebs geträumt. Und so setzt er sich auf den Lederstuhl vor dem Schreibtisch aus Kunstholz, zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen Schluck Kaffee, stellt sich auf der anderen Seite des Gitterfensters seinen ehemaligen Vernehmer vor, und sagt laut: „Siehst du, so schnell kann alles ganz anders kommen.“ Vier Jahre ist das her. Es war der Tag, an dem Norbert Krebs, 51, seine erste Führung durch das ehemalige Gefängnis der DDR-Staatssicherheit in Hohenschönhausen hielt. 19 Jahre ist es her, dass er auf der anderen Seite des Verhörzimmers saß und vom Vernehmer laut gesprochene Sätze hörte wie „Unser Arm reicht weit!“ und „Sie können hier drin auch verrotten!“ Fünf Wochen verbrachte er letztlich hier, auf einem Gelände, das offiziell zwar nicht existierte, auf dem es aber Gummizellen, Verhörräume und Wasserfolterkam- mern gab. Hier quälten schon die Russen nach dem Zweiten Weltkrieg politische Feinde, ihre Techniken gaben sie an die neuen Machthaber in der Osthälfte Deutschlands weiter. „Wie es so schön hieß: von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen“, kommentiert Krebs. Er ist ein zynischer Mensch. Fünf Wochen, das mag nicht lang klingen. Aber es waren diese Tage, die ihn zum Zyniker machten. Das ist seine Art, mit der Ohnmacht, die er damals erlebt hat, umzugehen.

Norbert Krebs 1

Früh die falschen Fragen gestellt

Nach Hohenschönhausen war Krebs gekommen, weil er sich getraut hatte, im Juli 1989 Anzeige zu erstatten: Gegen den Staat, die DDR, wegen des „Verdachts auf Wahlfälschung“. Bewusst hatte er es einen „Verdacht“ genannt. „Ich bin ein vorsichtiger Mensch“, betont er, und schaut dabei wie so oft auf den Boden. Auch bewusst hatte er Anzeige erstattet – aber keinen Ausreiseantrag gestellt. Krebs wollte die DDR nicht verlassen, sondern sie von innen verändern, er glaubte an eine Alternative innerhalb des Sozialismus. Doch Vorsicht und gute Absichten nützten ihm damals nichts. Schon in den Jahren zuvor hatte ihn die Staatssicherheit beobachtet, denn Norbert Krebs begann früh, Fragen zu stellen. Im Geschichtsunterricht etwa wollte er wissen, wie genau das damals mit dem Hitler-Stalin- pakt war. Doch waren nicht nur seine Fragen neugierig und verdächtig, sondern auch seine Antworten falsch. Sie rutschten einfach raus, die „Klopse im Hirn“, wie er im Berliner Dialekt sagt. Zum Beispiel in den Moment, als er erklären musste, warum er nicht in der Jugendorganisation „FDJ“ sei. Das „F“ stehe doch für „frei“, antwortete der 14jährige Krebs da, also sähe er diesen Zwang gar nicht ein. Krebs war 15 Jahre alt, als ihm seine Lehrerin die langen Haare abschneiden ließ – weil sie als oppositionell galten. „Mit jedem Haar fiel ein Stück Glaube in diesen Staat“, sagt er heute. Die falschen Antworten gewöhnte er sich aber auch mit kurzen Haaren nicht ab. Seine „Klopse“ waren nicht das, was die „da oben“, wie er sie heute noch nennt, hören wollten. Und doch waren sie nur der Anfang. Er durfte kein Abitur machen, über die offizielle Begründung, „die weltpolitische Lage lasse dies nicht zu“, lacht er noch heute. Statt zu studieren, absolvierte er eine Lehre. Er begann in der als oppositionell bekannten evangelischen Kirche mitzuarbeiten, wo es, wie er sagt, „Menschen gab, die auch nicht aufhörten zu denken“. Doch das war nicht erwünscht: 1989 waren 14 inoffizielle Mitarbeiter der Stasi dafür zuständig, das Denken von Norbert Krebs zu überwachen, darunter sein Halbbruder und sein Stiefvater. Und diese Leute arbeiteten bei weitem nicht so subtil, wie es zum Beispiel der Film „Das Leben der Anderen“ Glauben macht. Im Gegenteil: Krebs sollte sich vorsehen, das zeigte man ihm unverhohlen. Zum Beispiel, indem man in seinem Haus zwei Bilder an der Wand vertauschte, was Krebs direkt bemerkte, als er von der Arbeit nach Hause kam. Doch er nahm die Warnungen nicht ernst genug.

Norbert Krebs

Hunger, Schmerzen, Stunden des Wartens

Am 4. August 1989 schließlich griff die Stasi zu. Man holte Norbert Krebs von der Arbeit, pferchte ihn in das 60 Zentimeter breite Abteil eines Transporters, fuhr ihn mehrere Stunden durch die Gegend, damit er die Orientierung verlor, und steckte ihn schließlich in Zelle 216. Wo genau er war, sagte man ihm nicht – ein normaler Vorgang in der DDR. Offiziell war er in Untersuchungshaft, auch seine Familie erfuhr nichts, und die folgenden Wochen entsprachen den normalen Vorgängen in einem Stasi-Gefängnis: Von morgens um acht bis abends um zehn hatte er kerzengerade auf seinem Stuhl in der Zelle zu sitzen, die Handflächen auf den Knien. Schon am ersten Tag bekam er starke Rückenschmerzen, Bewegung war aber selten erlaubt – und sowieso kaum möglich in einer drei Meter langen und zwei Meter breiten Zelle. Legte er sich abends auf die schmale Holzpritsche, kam regelmäßig ein Wachposten vorbei, um zu prüfen, ob Krebs im Schlaf – an den so überhaupt nicht zu denken war – die Nacht-Hausordnung befolgte: auf dem Rücken liegen, beide Hände auf der Decke. „Wer kann das schon durchhalten?“, fragt Krebs heute, wenn er den Besuchern die Zelle zeigt. Wenn er die Toilette neben der Tür benutzte, konnte ihm der Beamte zuschauen, durch die Metallklappe in der Zellentür, durch die einmal am Tag Wassersuppe und Brot geschoben wurden. Natürlich stets zu wenig. Hunger, Schmerzen, Stunden des Wartens – unterbrochen nur von den Verhören. Mal mitten in der Nacht um zwei, mal am Vormittag und mehrere Stunden am Stück. Danach ging es zurück in Zelle 216. Geschlagen wurde er nicht, sagt Norbert Krebs, sondern psychisch mürbe gemacht: „Das dauerte zwar viel länger als physische Folter, hatte aber ansonsten nur Vorteile für die Stasi“ – denn Menschen, die psychisch gebrochen sind, lassen sich anschließend noch leichter manipulieren.

Norbert Krebs 2

Norbert Krebs war gut zu verkaufen

Wenn Norbert Krebs heute während seinen Führungen von seiner Haft erzählt, geht es ihm nicht um Details. „Ich will, dass die Leute das System verstehen und die Perfidität dahinter.“ Zwar war Norbert Krebs nur einer von 250.000 politischen Häftlingen in der DDR, doch seine Erlebnisse sind beispielhaft für die Methoden der Stasi. Er berichtet von Verhören, in denen die Tür aufging, der eintretende Beamte ihn bewusst übersah und von der Festnahme einer gewissen „Yvonne“ berichtete, und davon, dass „Susanne“ nun zur Adoption freigegeben sei. „Klar, so hießen meine Frau und meine Tochter “, sagt Krebs trocken. So schafften sie es, ihn langsam weich zu bekommen. „Wir waren hier alle keine Helden“, sagt Krebs im Verhörzimmer. Es war auch keine Heldentat, die ihm die Freiheit bescherte, sondern großes Glück: Norbert Krebs stand auf einer Liste mit 100 politischen Gefangenen, die von der Bundesre- publik Deutschland freigekauft wurden. Er hatte für die DDR einen Wert, das war der Grund seiner Verhaftung: Norbert Krebs war gut zu verkaufen. „Wie würden Sie das nennen, wenn ein Staat Menschen verhaftet, um sie gegen Geld freizugeben?“, fragt er die Besucher der Gedenkstätte. „Ich nenne das Menschenhandel“, beantwortet er sie selbst. Die Führungen durch die Gefängnisräume, in denen er und hunderte Andere gequält, gefoltert und erniedrigt wurden, macht er nicht aus Freundlichkeit oder um sich selbst zu therapieren. „Ich will etwas verändern, weil die Leute heute nicht mehr genau genug hinhören.“ Damit sie das Hinhören wieder lernen, stellt er nicht nur Fragen. Er wird auch laut, manchmal richtig wütend. Er will vermitteln: Demokratie heißt, aktiv zu sein. „Wir haben alle nicht nur Rechte, sondern auch pflichten. Und diese müssen wir sehr ernst nehmen.“ Denn, und davon ist Krebs überzeugt: „An mangelnder Beteiligung würde die nächste Diktatur in Deutschland nicht scheitern.“

Erschienen im Magazin Galore, Ausgabe 4-5/2009. Die Fotos stammen von  Daniel Etter.

Lea Hampel