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Frieden finden

Die Langeweile, die Stille und das Glück: Ein Besuch in der Wüste Negev.

Unfassbar, wie lang 250 Kilometer sein können. Vier Stunden sind es seit Jerusalem, in einem Verkehr, den manche gern mit Italien vergleichen. Sicherheitskontrollen mit Schäferhunden lagen schon auf dem Weg und aufregende Tankstellensuchaktionen in wasserfreier Umgebung. All das für das große Nichts. Für die Suche nach Stille in einem Land, in dem Unterhaltungen in Streitlautstärke ausgetragen werden und Handybenutzer telefonieren, indem sie das Telefon auf Lautsprecher stellen und vor sich hertragen. Und in dem Ruhe nur noch dort zu finden ist, wo sie oft fließend in Langeweile übergeht: in der Wüste. Kurz nach Mitzpe Ramon – Höhepunkte: ein Supermarkt, drei Bistros und eine Aussichtsplattform – kommen die letzten zwei Kilometer Geholper.

Wueste 8

Da taucht am Horizont ein Holzschild auf. „Succah Bamidbar“ steht darauf, „Laubhütte in der Wüste“, und so unpoetisch wie der Name ist auch der Ort: niedrige Hügel, bedeckt von braungrauem Geröll, Hütten in derselben Farbe, dreieckig oder rund wie Iglus, gebaut aus einer Art Reisig mit kleinen Fenstern. Dazwischen Sand, Kakteen, Gestrüpp und Steine. Im umzäunten Feld davor steht ein Pferd, unbeweglich wie der Traktor mit der großen Davidstern-Flagge daneben. Erst als das Autoradio ausgeht und die Motorkühlung sich beruhigt, wird klar, wie still es hier ist. Das Schließen der Kofferraumklappe ist unmäßig laut.

„Schalom“, sagt ein großer Mann mit kurzrasierten Haaren, altem Shirt, Arbeitshose und groben Schuhen. Er wartet vor der größten Hütte. Mehr sagt er nicht. Avi lebt und arbeitet hier seit 16 Jahren, er hat das Gelände von einer Deutschen übernommen. Ob er in die Wüste gekommen ist, weil er lieber drei als fünf Wörter verwendet, oder ob ihm die Worte nach Jahren in der Einsamkeit schlicht ein wenig abhandengekommen sind, ist nicht klar. Wirklich gerne spricht er nur von seinem „Traum, etwas anders zu machen“, hier in diesem Camp.

Es ist keine Umgebung für Träume. Und doch ist die Wüste einer der Lieblingsorte der Israeli, besonders im Herbst, nach dem jüdischen Neujahrsfest und in der Zeit um und nach Chanukka im Dezember. Hierher entfliehen sie dem Stadtleben, den Dachterrassenpartys in Tel Aviv, den Touristengruppen in Jerusalem. „Succah Bamidbar“, das Camp von Avi, ist nur eine von vielen Unterkünften in der südlich der Stadt Beerscheva beginnenden Wüste Negev. Es gibt „orientalische Nächte“ in Beduinencamps, Kibbuzim mit „Zimmerim“, kleinen Holzhütten, abends wird über dem Lagerfeuer gekocht. Von Avi sind es nur zehn Autominuten zum nächsten Camp „Silent Arrow“.

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Dass „Succah Bamidbar“ anders ist, noch puristischer, wird deutlich, als Avis Frau kommt. Sie überreicht das Bettzeug, sagt: „Einmal schütteln vorher“, wegen der Käfer, und zeigt auf eine an einen Hügel geschmiegte Hütte. „Sarah“ heißt die, wie alle Hütten trägt sie einen biblischen Namen. Hinter der Holztür ohne Schloss sieht es aus wie in einer thailändischen Strandhütte. Flickenteppiche bedecken den Boden, Kerzen stehen auf dem Bambustisch. Außer den zwei Schlafstätten gibt es einen Traumfänger und einen Gasherd. In Aquarellfarben hängen an der Wand die Regeln, unter anderem „friedliches Miteinander“.

Insgesamt acht Hütten hat Avi gebaut, vier nutzen die Familie und die Mitarbeiter, „denn als Allererstes ist das unser Zuhause“, erklärt Avi. Die anderen vier werden vermietet, alle mindestens 150 Meter voneinander entfernt, kaum größer als 25 Quadratmeter. Dass sie nach den Stammvätern und -müttern des jüdischen Volkes benannt sind, hat mit der Bedeutung von Laubhütten zu tun. Sie waren die Unterkünfte des umherziehenden jüdischen Volkes und werden noch heute zu Sukkot, dem Laubhüttenfest, von Familien aufgebaut. Sie stehen für Wanderschaft, aber auch für Beisammensein und für die häufige Bewunderung für die in der Bibel erzählte Geschichte des eigenen Volkes, die oft gar nichts mit Religion zu tun hat, sondern mit einer über Jahrhunderte vererbten Ehrfurcht ob ihrer schieren Klarheit.

Die Sachen sind gerade ausgepackt, die Pullover gegen kalte Wüstenluft übergezogen, da ist es schon dunkel. Die Sonne scheint schneller unterzugehen, die Zeit dagegen vergeht langsamer. Die dreißig Minuten, bis der Essensgong tönt, kommen einem wie zwei Stunden vor. Das kann daran liegen, dass das Handy nicht funktioniert, es kein Internet gibt, nicht einmal ein Radio. Oder daran, dass der Modus „Stadt und Schnelligkeit“ noch nicht abgelegt ist.

Das Geschirr steht bereits auf den niedrigen Holztischen in „Abraham“, wie die Gemeinschaftshütte heißt, auf einer Couch liegt ein Mischlingshund, in der Ecke steht eine Gitarre. Die gebratenen Zucchini und die Nudeln mit Tomatensoße serviert Lia. Die 26-Jährige mit den dünnen Armen und den lose gebundenen schwarzen Haaren ist seit ein paar Monaten mit ihrem Freund hier. Im Internet hat sie die Anzeige gelesen, seitdem putzt sie die Hütten und macht den Abwasch, gegen Kost und Logis. Wenn sie frei hat, studiert sie die mystische Lehre der Kabbala. „Ich wollte weg von dem Rennen in Tel Aviv“, sagt sie. „Neulich kam eine Frau zum Frühstück“, erzählt sie, „und sagte: Hier ist jeden Tag Schabbat. Ich finde, sie hat recht.“ Schabbat, das heißt für Israeli, oft mehr auf der theoretischen als auf der abstrakten Ebene: nichts tun zu müssen.

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Das ist nicht immer leicht. „Man muss wissen, worauf man sich einlässt“, sagt Lia. Aber darum geht es. Die Grenze zur Langeweile auszuloten. „In einem kannst du sicher sein: die Langeweile kommt“, sagt eine kanadische Studentin beim Abendessen, die mit einer Freundin für eine Nacht hier ist. „Vielleicht nicht am ersten, vielleicht nicht am zweiten Tag, aber am dritten hat sie dich.“ Ihr scheint selbst nicht klar, ob sie begeistert ist oder beunruhigt.

„Hier kommen nur bestimmte Leute her“, erklärt Lia, „Leute, die lernen wollen, es mit sich auszuhalten.“ Das klappt nicht immer. Als längst alle mit den Laternen zu ihren Hütten zurückgestolpert sind, ist ein Lichtkegel auf einem Hügel zu sehen. „Ich habe versucht, Handynetz zu bekommen“, wird der Amerikaner am Morgen beim Frühstück sagen. Er ist mit Frau und Kindern auf seiner Israelrundreise und hat hier haltgemacht, „weil man die Wüste machen muss“. „Das ist definitiv nichts für jede Art von Touristen“, sagt Avi, und ein Schmunzeln gräbt sich in seine sonnengebräunten Wangen. Hier habe man zwar alles, was man braucht, sagt er. „Aber eben ein bisschen anders.“ Und hofft, dass sich so bei seinen Gästen „der Schalter umlegt“.

Dieser Moment kommt. Noch nicht beim Essen, noch nicht beim Zähneputzen im Halbdunkel des Waschbeckens vor den Toiletten, aber danach. Auf den weichen Matratzen mit den groben Leinendecken ist nur noch eins zu hören: das Nichts, ab und zu gestört von etwas Wind in den Palmblättern des Daches und dem kitschig anmutenden Hundegeheul Richtung Vollmond. Aber kein Motor, kein Piepsen, nicht einmal das Surren einer Heizung.

In der Wüste zu sein hat für Israeli einen ideologischen Aspekt. Durch die Wüste hat Moses sein Volk geführt nach der ägyptischen Gefangenschaft. Die unwirtliche Landschaft mit den Händen zu bezwingen gehörte zur Ideologie des „neuen Menschen“ während der israelischen Staatswerdung. Die Wüste war es, die der erste Präsident Ben-Gurion grün sehen wollte, als Vision des Staates Israel. Bis heute sind Israeli ebenso stolz wie Touristen verwundert, wenn sie grüne Plantagen im rötlich beigen Sand im Süden sehen.

Auch für Avi ist das wichtig. „Wir versuchen, so viel wie möglich selbst zu machen. Brot, Oliven, Äpfel, all das ist von hier“, sagt er, auch Hühner hält er, „heute gelegt“, sagt er beim Frühstück und zeigt auf die hartgekochten Eier. Sie schmecken phantastisch, aber ob das an der ökologischen Herstellung liegt, an zwölf Stunden Schlaf oder daran, dass es hier keinen Wein zum Abendessen gibt, ist schwer zu sagen.

Der Drang zur Bodenhaftung geht bei Avi noch einen Schritt weiter, typisch für den derzeit im Negev glänzend gedeihenden Ökotourismus. In „Succah Bamidbar“ wird, wie in vielen anderen ähnlichen Camps, vom Herd bis zum Wasser im Bad alles mit Solarstrom und Gas betrieben. Eine warme Dusche gibt es ebenso wenig wie Heizungen in den Hütten. „Please pee outside“, steht neben der Toilette, „Bitte pinkeln Sie draußen“, und zu den Verhaltensregeln gehört: „Bitte machen Sie nur dann das Licht an, wenn es unbedingt notwendig ist.“

Strom für unwichtige Dinge gibt es nur tagsüber, wenn die Sonne scheint. Und so muss, wer Abschiedsbilder machen will und nicht ans Aufladen der Digitalkamera gedacht hat, den Vormittag lesend und Tee trinkend vor der Hütte verbringen, bis der Akku aufgeladen ist. „Dies ist kein einfacher Platz“, hat Lia nach dem Frühstück gesagt. Nach ihrer Definition klingt es sehr verlockend, es öfter mal „nicht einfach“ zu haben.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Ressort Reise, Ausgabe 4/27. Januar 2013.

Lea Hampel