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Es ist lecker, aber ist es koscher?

Bevor streng gläubige Juden eine Speise zu sich nehmen, muss klar sein, dass diese koscher ist. Nicht immer einfach, in einer Welt mit seitenlangen Zutatenlisten. Damit trotzdem alles mit rechten Dingen zugeht, reisen religiöse Experten um die halbe Welt. Einer von ihnen ist Rabbi Mordechai Seckbach.

Auf den ersten Blick würde der Mann kaum als Chemieexperte durchgehen. Wie alle Männer in Modi’in Illit, einer jüdisch-orthodoxen Siedlung nordwestlich von Jerusalem, trägt er einen schwarzen Anzug mit Mantel, ein weißes Hemd und Lederschuhe. Kleine Lachfalten umgeben seine Augen, ein hellgrauer Bart reicht von Ohr zu Ohr. Dass Rabbi Mordechai Seckbach tatsächlich die Unterschiede zwischen E324 und E418 erläutern kann, wird erst deutlich, wenn er in einem Deutsch, dem kaum die französische Heimat anzuhören ist, erklärt, warum koscher mehr ist als die Trennung von Milch und Fleisch.

Rabbi Mordechai Seckbach ist Experte für jüdische Speisegesetze. Er vergibt eines der weltweit wichtigsten Koscherzertifikate, sogenannte Hechscher – eine Art Siegel auf Lebensmitteln von Holland bis China, das gläubigen Juden zeigt, dass sie ein Produkt zu sich nehmen können, ohne religiöse Vorschriften zu brechen. Weltweit gibt es zwanzig bis dreißig wichtige Koscher-Zertifikate. Entstanden sind sie, weil Lebensmittel immer komplexer werden und sich ihre Herstellung vom Alltag zunehmend entfernt. »Früher«, sagt Seckbach melancholisch, »haben alle selbst gebacken oder kannten den Bäcker. Heute, mit Fertigprodukten und Essen aus aller Welt, ist das komplizierter.«

Der Rabbi ist seit den 70er-Jahren Weltreisender in Sachen Koscher. Sein Handwerkszeug? »Erfahrung«, sagt Seckbach, streicht das Tischtuch glatt und zeigt auf die Bücherwand hinter ihm. »Und Lernen. Das ist jüdische Pflicht und Tradition. Ich hatte hervorragende Rabbiner und Lehrer.« In seinem Geburtsort Lyon, während seiner Lehrzeit in Zürich und in London vor seinem ersten Rabbinat in Kopenhagen ließ er sich zeigen, wie jahrtausendealte Regeln in der modernen Lebensmittelherstellung umgesetzt werden. Später nahm er sich jedes Jahr frei, um Experten zu besuchen.

Viel hat der Rabbi auch von seinen Kunden gelernt. »Ein Unternehmen hat mich zum Beispiel eine Woche in Aromastoffproduktion geschult.« Er geht Dingen gern auf den Grund, er muss stets alles ganz genau wissen. In Geschäften liest er automatisch die Angaben auf den Verpackungen. »Eine Berufskrankheit«, sagt er mit Blick auf die Limonadenflasche vor ihm.

Diese Berufskrankheit hat ihn zu einer Autorität gemacht. Firmen aus aller Welt schicken ihm Zutatenlisten – von Kaugummimasse, Fruchtextrakten oder Kokosmilchpulver, aufgegliedert in ihre Bestandteile. Seckbach überprüft die Stoffe und recherchiert, welche Unternehmen zuliefern. Jede zweite Woche schaut er sich in England, Frankreich oder Dänemark Fabriken an, inspiziert die Reinigung und die Verarbeitung der Zutaten. Auch die beteiligten Personen sieht er sich genau an. »Da hilft mein Psychologiestudium«, sagt er und schmunzelt.

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Seckbach spricht mit Mitarbeitern, er beobachtet, wie sie mit Produkten umgehen. Sorgfalt ist ihm wichtig. Einmal, erzählt er, habe er sich vor einer Kontrolle einen Kaffee geholt. »Als der Mitarbeiter am Fabrikeingang sagte: ›Werter Rabbi, nehmen Sie’s mir nicht übel, aber der Kaffee bleibt draußen, keine Esswaren in der Fabrik‹, da wusste ich: Hier läuft es richtig.« Gegenseitiges Vertrauen ist essenziell. Die Unternehmen verlassen sich darauf, dass alle Informationen bei Seckbach bleiben. »Ich weiß einige Betriebsgeheimnisse«, sagt er. Allerdings lässt er sich die Zutatenlisten ohne Mengenangaben geben. »So können sich Firmen sicher fühlen.«

Mittlerweile weiß er bei vielen Stoffen auswendig, ob sie in Ordnung sind – obwohl schon ein schlichtes Erdbeeraroma bis zu 100 Zutaten haben kann. »Wichtig ist, dass man sich nicht auf den ersten Eindruck verlässt«, sagt Seckbach. »Milchsäure hat beispielsweise nichts mit Milch zu tun.« Sie darf mit Fleischprodukten verwendet werden, was bei Milch gegen die Regeln verstößt. Glyzerin kann aus Tierfett bestehen oder aus Petroleum – Ersteres ist problematisch, Letzteres nicht. Und es gibt Insekten, die nach dem Waschen in Erdbeeren bleiben – aber Insekten erlauben die Speisegesetze nicht. »Daher gibt es, auch wenn das schwer vorstellbar ist, nicht koschere Erdbeeren.«

Aber auch Seckbach hat noch Fälle, die ihn zum Grübeln bringen. Erst kürzlich saß er über den Büchern, wegen Karminsäure, eines Farbstoffs, ursprünglich von einem Insekt produziert. Mittlerweile gibt es ihn auch synthetisch, »dann heißt er E120. Eine amüsierende Vorstellung, dass es künstlich koscher ist, natürlich aber nicht.« Für Fälle, in denen er sich mit Kollegen uneinig ist, wird ein Lebensmittelchemiker konsultiert – entschieden wird jedoch auf Rabbinertreffen.

Trotz aller Absprachen gibt es bei den Zertifikaten Unterschiede. Seckbachs Siegel ist bei den orthodoxen Gläubigen hoch angesehen, weil er sehr streng ist. Als er noch in Straßburg Oberrabbiner war, ließen sich sogar Muslime von ihm beraten, weil es Ähnlichkeiten zwischen jüdischen und muslimischen Essensregeln gibt.

»So sieht das aus«, sagt er, als er vom Kühlschrank geeilt kommt. Er legt ein Stück Käse auf den Tisch – auf der Folie ist neben dem Preis ein Oval mit dem hebräischen Wort kasher zu lesen. »Das ist meine Unterschrift.« Er stellt eine Weinflasche daneben, deren Deckel ein C für Koscher und ein S für Seckbach zieren. In Versuchung, unbekannte Lebensmittel zu probieren, ist er nie. Er macht sich nicht viel aus Essen. Geht er auf Reisen, nimmt er Instantsuppen mit, von seiner Frau gebackenes Brot und von ihm zertifizierten Käse. »Da kann ich sicher sein.«

 Erschienen im Magazin Effilee, Ausgabe 10, Mai/Juni 2010.

Lea Hampel