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Ein Leben im Transit

Die Zahl der Menschen, die nach Deutschland fliehen, nimmt ab. Das verringert zwar den Druck, täglich Tausende Flüchtlinge unterzubringen. In den Traglufthallen und Zweckbauten ändert es aber nur wenig am Grundproblem: Zu viele Menschen leben auf engem Raum. Das ist nicht nur anstrengend für alle Beteiligten, sondern schadet vor allem der Integration.

Der einzige Ort, an dem Osama schläft, ist das Auto. Sobald der Motor läuft, fallen dem Vierjährigen die Augen zu. Zu allen anderen Zeiten, nach dem Frühstück, mittags, am frühen Abend, rennt er über graue Böden, düst mit seinem Plastikauto vorbei an grauen Wänden, der Ausstattung der Flüchtlingsunterkunft, in der er seit vier Monaten wohnt. Ruhig sitzen kann Osama weder auf dem Arm seines Vater Maher noch auf dem Schoß seiner Mutter Mouna. Er hat die aufgedrehte Wildheit eines übermüdeten Kindes, dunkle Ringe umrahmen seine Augen. Denn wenn Osama nachts im Bett liegt, träumt er nicht. Er ist wach, hat Angst, weint und hält seine zwei Jahre alte Schwester Sidra vom Schlafen ab. Besorgt schaut Mutter Mouna in sein Gesicht. „Alles, was ich mir wünsche, ist ein Zuhause, in dem ich mit meinen Kindern leben kann.“ Der Ort, an dem die syrische Familie gerade lebt, ist zwar ein Dach über dem Kopf, eine Behausung. Aber ein Zuhause, das wäre etwas anderes. Das wäre ein Ort, an dem man schlafen kann.

Spricht man von Problemen in Flüchtlingsunterkünften, dann meist um Extrembeispiele: Messerstechereien in Turnhallen, Polizeieinsätze in Jugendherbergen. Solche Fälle gibt es. Aber sie sind die Ausnahme. In den meisten Unterkünften ist der Alltag eher wie hier, auf dem Parkplatz eines einstigen Kaufhauses wenige U-BahnStationen vom Nürnberger Hauptbahnhof entfernt: Ringsherum ist ein Zaun, durchkommt, wer sich als Bewohner ausweist oder ein Anliegen hat. Zwei große Hallen, wie sie sonst bei Vereinsfesten stehen, Sanitärcontainer und ein provisorischer Speisesaal mit Verwaltungsräumen dienen als Not-Gemeinschaftsunterkunft für 400 Bewohner. Zu Spitzenzeiten lebten mehr als 420 Menschen hier. Weil die Zahl der Kommenden sinkt, sind es derzeit knapp 200, alles junge Männer, eine Frau und die Familie von Osama.

Sidra, Maher und Osama in ihrem Zimmer im April 2016.

Mouna (28), Maher (31), Osama und Sidra stammen aus Damaskus. Mehrere Jahre bestand ihr Alltag aus Bomben und Angst, ohne Strom und Einkommen. Als Maher seinem Ingenieursjob nicht mehr nachgehen konnte, ging er in die Türkei. Mouna folgte mit den Kindern einige Monate später. Doch Mahers Arbeit reichte nicht zum Leben. Schließlich verbrachten sie vier Stunden auf einem der kleinen Boote von der Türkei nach Griechenland. „Vier Stunden!“, sagt Mouna, „ich hatte große Angst um meine Kinder.“ Mit Autos und zu Fuß ging es über die Balkanroute nach Deutschland. 3.000 Euro haben sie bezahlt für die Hoffnung darauf, was Mouna schlicht „ein gutes Leben“ nennt.

Vorerst sind sie nicht im guten Leben angekommen, sondern in Halle 2. Die ist in der Nürnberger Unterkunft für Eltern mit Kindern und Paare gedacht. Darin teilen graue Wände die Fläche in Flure. 2,50 Meter sind die kunststoffbeschichteten Spanplatten hoch, darinnen weiße Türen. Neben jeder sind Etiketten angebracht, beim Schild „2.5“ macht Mouna die Tür auf, die Wand wankt mit. „Also, das ist es“, sagt sie und schaut verlegen auf den Boden. In Damaskus hat sie in einem Haus gewohnt, hier teilt sich die Familie 15 Quadratmeter, gefüllt mit vier Stockbetten und einem Gitterbett. Dabei haben sie noch Glück: Sie sind unter sich. Den meisten Geflüchteten geht es anders. Die Zimmer sind für acht Menschen ausgelegt, Standard in Sammelunterkünften. Das bedeutet für den Einzelnen: kein Schrank, in den man eigene Dinge räumt, keine Tür, die man hinter sich schließt, kein Fenster, aus dem man schaut. So wohnt auch Kidus, ein junger Äthiopier. Seit November vergangenen Jahres besteht sein Lebensbereich aus 80 Zentimetern mal zwei Metern in Halle 1: seiner Matratze. Darunter fängt das Reich eines seiner Mitbewohner an, darüber ist nur das Hallendach, Zimmerdecken gibt es nicht. Sein Handy, die wichtigste Verbindung nach Hause, trägt er am Körper. Sein Hab und Gut ist in einem Koffer verstaut. Fragt man ihn, was ihn an der Unterbringung stört, ist es aber nicht, dass er sich vor drei anderen Jungs, die er bis vor Kurzem kaum kannte, ausziehen muss oder neben ihnen einschlafen. Es ist der Lärm. Die dünnen Wände filtern nichts. Freitage wie heute gelten als ruhig, doch es herrscht Dauerbeschallung: Im Gang telefoniert jemand, zwei Zimmer weiter spielt wer auf dem Handy, irgendwo singt Céline Dion „My Heart Will Go On“. „Und wenn dein Zimmernachbar leise ist“, sagt Kidus, „brüllen garantiert die anderen.“ Es sind nicht einfach viele Menschen, die hier aufeinandertreffen, sondern drei Religionen, fünf Kulturen, 200 Schicksale. Die Gebundenheit an den Ort, die Langeweile, der Neid, weil es bei manchem schneller weitergeht – all das kommt zusammen. Vor allem die Enge potenziert sich mit anderen Faktoren. Kidus sagt, er würde die Situation leichter ertragen, hätte er tagsüber zu tun. Stattdessen pendelt er zwischen Speisesaal und Matratze, immer umgeben von Menschen. Seelisch verursacht so etwas Stress, sagt Hanna Küstner, die bei der Münchner Organisation Refugio Flüchtlinge psychotherapeutisch betreut. „Bei Nähe ist ein wichtiger Punkt, sie selber bestimmen zu können.“

Der Flur zwischen Dutzenden Räumen. Decken haben die einzelnen Kabinen nicht.

Welche Folgen es hat, wenn Menschen das nicht können, ist an den Wänden in Nürnberg sichtbar. Manche haben Löcher, als hätte jemand in Wut dagegengeschlagen. Auch einige Bettdecken sehen aus, als hätte jemand daran gerissen. Das Klima wirkt zwar tagsüber, wenn einige Jungs Fußball spielen, freundlich. „Aber das ist ein Haufen junger Männer – da gibt es schon mal Stress“, sagt der Sozialarbeiter Bernd Haft. Vor allem nachts eskaliert die Situation. „Meist ist es wie bei anderen Leuten auch“, sagt Haft, „es reicht ein kleiner Funken.“ Bei angespannten Nerven kanndas schon der Kopfhörer des Zimmernachbarn sein, der die Musik nicht genug abschirmt. Etwa einmal in der Woche gibt es eine Schlägerei. Neun Sicherheitskräfte patrouillieren bis zum Morgen. Sie rufen zur Not die Polizei. Doch an Schlaf ist auch in anderen Nächten nicht zu denken. Die Nachbarn, erzählt Kidus, spielen manchmal Fußball im Flur. Auch wenn sie sich nur unterhalten, hört das jeder. Wenig Schlaf und Stress bedingen Krankheiten: Mounas Kinder sind oft erkältet, seit sie hier leben. Ist eines krank, folgt bald das andere, weil es im gleichen Stockbett schläft.

Es ist ein Teufelskreis: Ohne Kontrolle über den Raum, das Essen, die Privatsphäre – sogar die Heizung bedient der Sicherheitsdienst – verstärken sich psychische Probleme. Das wiederum macht schwere Situationen noch schwerer erträglich. In Küstners Therapiesitzungen geht es oft um die Wohnumstände. Die Psychotherapeutin wundert das nicht: Die beengten Verhältnisse sind besonders für Trauma-Patienten schwierig. „Wenn jemand am Gang vorbeigeht und laut an der Tür klopft, erinnert das viele an frühere Dinge, die passiert sind – das kann ein Trigger sein, der einen gedanklich in die Vergangenheit transportiert.“ Oft haben die Menschen einen anstrengenden Weg hinter sich, mussten wochenlang funktionieren. Sitzen sie herum, „bekommen die psychischen Probleme plötzlich mehr Raum“, sagt Küstner. Je länger der Aufenthalt dauert, desto stärker nimmt zudem die Enttäuschung zu – auch in Bezug auf die Unterbringung. Neulich war ein Bewohner so verzweifelt, dass er sich geweigert hat, Hafts Büro zu verlassen, bis er in eine andere Unterkunft käme. Schließlich brachten der Sicherheitsdienst den Mann in sein Zimmer.

Die Wut und Frustration vieler Bewohner zeigt sich an vielen Ecken der Einrichtung.

Wie stark das Bedürfnis nach Selbstbestimmung ist, zeigt sich an kleinen Dingen. Über den Trennwänden hängen oft Hosen. Schläft jemand in einem unteren Bett, baut er aus Decken einen Vorhang. Auch Mouna hat im Zimmer eine Struktur geschaffen, die so nah an einer Wohnung ist wie möglich: Im Türrahmen hängt Stoff, damit nicht jeder gleich das Zimmer sieht. Jedes der vier Betten ist jetzt das, was früher ein Zimmer war. Das andere Bett, erklärt sie mit einem gequälten Grinsen, sei ihre „Küche“. In einer Pappkiste liegen Orangen, daneben stehen ein Coffee-to-go-Becher und eine Flasche Öl. Sie hat einen elektrischen Topf gekauft, damit sie für die Kinder kochen kann. Erlaubt ist das nicht. Aber solange es nicht gefährlich ist, sieht Bernd Haft darüber hinweg. Er weiß, je mehr Spielraum, desto besser. Das rät auch Therapeutin Küstner ihren Klienten – im begrenzten Rahmen Selbstbestimmung üben: Das reicht von Ohropax gegen den Lärm bis zum Leuchtstern an der Wand, der einen daran erinnert, dass man in Sicherheit ist. Hinter dem Bett von Kidus hängt ein Heiligenbild. Am Grundproblem kann das alles nichts ändern: der Ungewissheit.

Es gibt vor allem ein Wort, das durch die Räume klingt: „Transfer“ lautet es. Für den Äthiopier Kidus ist es ein Hoffnungswort, der 27-Jährige verwendet es oft. Neuer Raum, neues Leben, glaubt er. Tatsächlich passt zu seinem Status eher das Wort „Transit“. Auf die Information, wann er in eine bessere Unterkunft kommt, wartet er seit vier Monaten. Eigentlich sollen Angekommene nur maximal zwei Monate in Notunterkünften leben. Doch vor Kurzem waren Mitarbeiter des Sozialamts da: Es könnte ein halbes Jahr werden. Das beunruhigt auch Mouna und Maher. Eine bezahlbare Wohnung finden sie nicht. Deshalb hoffen sie, in eine ruhigere Unterkunft zu kommen mit Spielkameraden für Osama und Sidra.

Drei Mal am Tag gibt es Essen im Gemeinschaftsraum.

Wenn Hanna Küstner ihre Klienten zur Begrüßung fragt, wie es geht und was sie gemacht haben, hört sie oft: „Ich habe gewartet.“ Ihre Patienten warten – wie Mouna, Maher und Kidus – auf alles: den Brief vom Anwalt, Post vom Bundesamt für Migration, das Asylinterview, den Deutschkurs. Genau das macht das beengte Leben dramatisch: „Wenn ich weiß, eine Wohnsituation ist begrenzt, lässt sich vieles leichter ertragen, als wenn die Ungewissheit herrscht: Wie lange bin ich hier?“ Die Unterkunft, die ein Ort des Ankommens sein soll, wird ein Ort des Ausharrens – und ein Zentrum der enttäuschten Erwartungen. Das ist nicht nur für die Betroffenen schwierig, sondern auch für die Gesellschaft. Im letzten Oktober wurde beschlossen, dass Asylbewerber künftig bis zu einem halben Jahr in Erstunterkünften, meist Gruppenunterkünften, bleiben müssen. Auch das bayerische Kabinett hat im April verkündet, bei der Erstunterbringung, aber auch danach stärker auf Gemeinschaftsunterkünfte zu setzen. Die Folgen sind kaum abschätzbar. Denn je später jemand beginnt, ein eigenes Leben zu leben, desto länger dauert die Integration in den Alltag und Arbeitsmarkt. Aber wie soll man beginnen, wenn man nicht weiß, ob man nächste Woche noch am selben Ort ist? Hanna Küstner glaubt, dass Gruppenunterkünfte Integration deutlich erschweren. 40 Prozent aller Geflüchteten haben laut Studien psychische Schwierigkeiten. „In solchen Unterkünften kommen diese Menschen in noch größeren Stress, ihre Lage verschlechtert sich eventuell, und die Genesung verzögert sich“, sagt Küstner. An ihren Klienten kann sie beobachten, wie schnell es denen besser geht, die in eine eigene Wohnung oder eine Wohngemeinschaft ziehen. Darauf hofft auch Mouna: dass es ihr, ihrem Mann, ihren Kindern besser geht, sobald sie eine richtige Wohnung haben. Sie will nicht viel, sagt sie. Aber ein Kind, das schlafen kann, wäre ein Anfang.

Erschienen im Magazin BISS, Heft 6/2016. Die Fotos stammen von Jens Schwarz.

Lea Hampel