Text • Missy

Drei Koffer und ein Kind

Ein Gespräch mit meiner Mutter darüber, warum sie die DDR unbedingt verlassen wollte – auch wenn das als Alleinerziehende alles andere als einfach war.  

Das Leben in der DDR war von Anfang an geprägt von der sozialistischen Politik. Auch ich war bei den Jungpionieren. Geld sammeln für die Dritte Welt, das fand ich gut. Doch in der achten Klasse begann die vormilitärische Ausbildung. Damals habe ich gemerkt: Das ist nicht meins. Ab der zehnten Klasse bin ich durch kritische Fragen „unangenehm aufgefallen“. Als ich 18 Jahre war, habe ich das erste Mal über einen Ausreiseantrag nachgedacht. Damals habe ich deinen Vater kennen gelernt, wir haben Straßentheater gemacht. Je mehr ich mich engagierte, umso stärker wurde die Ausgrenzung. Dazu kam, dass ich keinen Studienplatz erhielt. Trotz Abi war ich in der Altenpflege, einem Sammelbecken für „solche wie mich“. 1982/83, im „heißen Herbst“, haben wir Atomschutzübungen dokumentiert. Danach hat die Verfolgung zugenommen, Verhöre, Abholungen. Nach dem Wehrdienst deines Vaters haben wir den Antrag gestellt. Nach fünf Minuten war er abgelehnt, wir haben ihn noch mal gestellt, regelmäßig gefragt. Es hieß: „Gedulden Sie sich.“ Währenddessen ging die Ehe kaputt. Dein Vater zog seinen Antrag zurück, ich hielt meinen aufrecht. Ich wollte auf keinen Fall, dass du in diesem System groß wirst. 1989 kam ein neues Gesetz, Rechtsanspruch auf einen Antrag, der in sechs Monaten bearbeitet wird. Ende August bekam ich eine Karte, beim Ministerium für Inneres vorzusprechen. Ich war aufgeregt, habe mich aufgedonnert. Die Situation war wie im Film: Ich musste die Treppe runter, unbetonierte Flure lang. Im Antrag hatte ich angegeben, dass ich meine Großmutter pflegen will, die war inzwischen tot, aber ich wusste nicht, ob die das wussten. Auf die Frage, ob ich weiter raus will, sagte ich: Ja. Der Satz „Ihre Ausreise ist offiziell genehmigt“ kam nur durch Watte an. Ich habe meiner Mutter Bescheid gesagt, und bin ins Café, Sekt trinken. Mit drei Koffern und deinem Hasen, in dem wir 100 Mark versteckt hatten, sind wir los. Zuerst mussten wir nach Gießen, für die Einbürgerung. Abends kamen Nachrichten: Honecker abgetreten. Kurz darauf fiel die Mauer. Ich dachte: Diese Schweine. Jetzt passiert, worauf ich Jahre gewartet habe. Wäre es sechs Monate früher passiert, wäre mein Leben komplett anders verlaufen. Trotzdem habe ich meine Entscheidung nicht bereut. Als ich gegangen bin, hatten viele Leute, sogar die eigenen West-Verwandten, Bedenken – allein im Westen, ohne Abschluss und dann noch mit Kind? Tatsächlich bekam ich alles, was ich benötigte, sehr schnell, vom Kindergartenplatz bis zum ersten Aushilfsjob. Ansonsten habe ich vermieden, zu sagen wo ich herkam. Ich fühlte mich zu alt, um noch zu studieren, meine Qualifikationen habe ich über die Jahre neben der Arbeit nachgeholt.

Erschienen im Missy Magazine, Rubrik “Bei Muttern”, Ausgabe 3/2013.

Lea Hampel