“Die Grenzen des Sagbaren werden immer weiter verschoben”
Ein rechtes Geheimtreffen, große Demonstrationen dagegen und ein mögliches AfD-Verbot. Der Historiker und IfZ-Direktor Andreas Wirsching hat schon beim NPD-Verbotsverfahren Gutachten erstellt und schätzt nun die Lage ein.
Ein geheimer Plan, Menschen aus Deutschland zu deportieren, entwickelt bei einem Treffen hochrangiger AfD-Politiker, Vertreter der Werteunion und rechtsextremer Unternehmer: Die Recherchen des Netzwerks Correctiv sorgen für Aufruhr. Hunderttausende sind auf die Straßen gegangen, um gegen Rechts zu demonstrieren, sogar Juristenverbände warnen vor den Entwicklungen. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, hat unter anderem ein Gutachten im zweiten NPD-Verbotsverfahren miterstellt und befasst sich seit Langem mit politischem Extremismus im 20. Jahrhundert. Ein Gespräch über den Werkzeugkasten der wehrhaften Demokratie, den Sinn und Unsinn historischer Vergleiche und den gefährlichen »Extremismus der Mitte«.
LEIBNIZ Herr Wirsching, haben Sie die Ergebnisse der Correctiv-Recherche überrascht?
ANDREAS WIRSCHING Ja. Ich war sogar etwas geschockt. Ich beobachte die AfD seit Langem und sehe eine ständige Radikalisierung. Aber die Härte der völkischen Handlungsanweisungen zeigt eine neue Dimension. Dieses Abschieben-Wollen und die angestrebte Aberkennung der Staatsbürgerschaft, die weit jenseits des Grundgesetzes läge – solche Bestrebungen habe ich bisher nur ganz am Rande der AfD wahrgenommen. Die Art, wie sich die AfD einerseits offiziell darstellt und die rechtsextremistischen Positionen andererseits, die etwa die Identitäre Bewegung offen vertritt, sind immer weniger auseinanderzuhalten. Dafür ist diese Veranstaltung in Potsdam ein Beleg. Man darf das wirklich nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Für Sie ist das also eine Art Paradigmenwechsel?
Für diesen Schluss ist es vielleicht ein bisschen zu früh, aber ich würde nicht ausschließen, dass man eines Tages sagt: Hier wurde der Rubikon überschritten.
Es gab schnell ein deutliches Statement mehrerer Juristenverbänden, die Parallelen zwischen dem Treffen und der Wannseekonferenz gezogen haben, auf der die Nationalsozialisten vor ziemlich genau 82 Jahren die Vernichtung des Judentums planten. Wie sehen Sie den Vergleich?
Dass Richter und Anwälte reagieren und warnen, ist natürlich sehr zu begrüßen. Der Verweis auf die Wannseekonferenz ist allerdings aus mehreren Gründen historisch inadäquat.
Aus welchen denn?
Bei der Wannseekonferenz haben die Reichsregierung, die Spitze der Verwaltung und der SS, Ministerialbeamte, Abteilungsleiter und Staatssekretäre, aufgrund einer Einberufung durch Reinhard Heydrich ganz offiziell beraten, wie man die Juden am besten deportiert und vernichtet. Beim Treffen in Potsdam dagegen haben wir es mit einem Milieu zu tun, nicht mit einer exekutiven Entscheidungsmacht. Überdies herrschte zur Zeit der Wannseekonferenz eine brutae Diktatur, auch ganz anders als heute. Aber bei dem Treffen fallen einem natürlich schnell andere historische Vorgänge ein. Das sollte man auch thematisieren, ohne dabei zu postulieren, die Geschichte wiederhole sich.
Ist auch Ihnen so ein historischer Vorgang eingefallen?
Es gibt einen Vorgang in der NS-Zeit, an den fühlte ich mich spontan erinnert: die Abschiebung polnischer Juden im Oktober 1938 über die polnische Grenze. Darauf folgte eine Ereigniskette, die zur Reichspogromnacht führte. Aber so richtig vergleichen kann man auch das nicht.
Es werden derzeit gern Parallelen zu den 1920er und 1930er Jahren gezogen. Wo sehen Sie diese als gerechtfertigt an, wo nicht?
Man hat für Weimar von der »Krise des Parteienstaats« gesprochen. Und auch heute ist unser parlamentarisches Parteiensystem in der Krise. Die demokratischen Parteien geraten zunehmend unter Druck, weil es einen radikal rechten Block gibt, der auf Bundesebene bei 15 Prozent Zustimmung liegt und auf Länderebene teils deutlich darüber. Parteien werden dadurch gezwungen, Koalitionen einzugehen, die nicht funktionieren. Die Ampel ist dafür das beste Beispiel. Alles, was unter Druck von rechts geschieht, beeinträchtigt den parlamentarischen Prozess – und das führt wiederum zu negativen Rückkoppelungen mitden Wählerinnen und Wählern, zu Vorurteilen über »die da oben«.
Auch Sie sehen also Parallelen zur damaligen Zeit?
Den Begriff »Parallelen« finde ich als Metapher nicht gut, aber es gibt etwas, das ich als »analoge Potenziale« bezeichnen würde. Darüber muss man nachdenken.
Gibt es solche Potenziale auch in anderen Bereichen?
Ja, etwa, was den Extremismus betrifft. Die NSDAP war ein singuläres Phänomen, eine Führerpartei, die eine deutlich radikalere Programmatik aufwies, als die AfD sie derzeit hat. Aber was ich für heute für hilfreich halte, ist der Begriff des »Extremismus der Mitte«, den man in Bezug auf die NSDAP verwendet hat.
Wie ist er definiert?
Der »Extremismus der Mitte« definiert eine Mittelschicht, die sich durch diffuse anonyme Kräfte bedroht und sich ihnen machtlos ausgeliefert fühlt. In der Weimarer Republik sahen Menschen diese Bedrohung in der sehr gut organisierten Arbeiterbewegung und dem angeblichen »internationalen Finanzkapital«. Heute gibt es ganz klar ähnliche Empfindungen: Statusunsicherheit, Abstiegsängste, Identitätsunsicherheit – das alles findet sich in Teilen der Mittelschichten, nicht nur in Deutschland, überall auf der Welt. Ein Weg, mit diesen negativen Gefühlen umzugehen, scheint es zu sein, sich nationalistisch-protektionistischen Ideen zuzuwenden. Was die AfD betrifft: Ich konnte nie viel mit der Theorie von der Protestwählerpartei oder den sogenannten Abgehängten anfangen. Das mag es vereinzelt geben, aber das Personal der AfD ist zum Großteil akademisch gebildete Mittelschicht. Das finde ich ziemlich beunruhigend.
Auch auf globaler Ebene werden aktuell häufig historische Vergleiche gezogen, etwa in Bezug auf den Israel-Gaza-Konflikt. Hilft das, eine Dramatik zu unterstreichen, oder geschieht nicht genau das Gegenteil, wenn Vergleiche inflationär erfolgen?
Ich sehe das ähnlich ambivalent: Wenn man Vergleiche zu Tode reitet, nimmt sie niemand mehr ernst. Man muss sie analytisch fundieren und fokussieren. Ein Beispiel für einen Vergleich, den man erst nehmen kann, ist die historische Erfahrung des Konsistenzzwangs: Sie besagt, dass Extremisten das »Charisma«, das sie mit radikalen Programmen und Aussagen erworben haben, auch bestätigen müssen, wenn sie die exekutive Macht gewinnen. Nur so bleiben sie für ihre Klientel glaubwürdig. Sie werden gleichsam zu Gefangenen ihrer eigenen Propaganda. Das führt dazu, dass sie auch Dinge umsetzen, von denen man vorher sagte: »Lass die mal an die Macht kommen, dann wird sich das schon abschleifen«. Dass das nicht stimmt, ist die deutsche Erfahrung, aber hat sich später auch bei Slobodan Milosevic, Vladimir Putin und anderen gezeigt. Ich würde deshalb an der historischen Lehre festhalten, dass Rechtsradikale keinesfalls exekutive Macht bekommen sollten.
Ist dieser Konsistenzzwang auch ein wesentliches Problem, wenn sich die Grenzen des Sagbaren verschieben, Aussagen immer radikaler und radikaler werden?
Ja, und das finde ich erschreckend. Man hat den Eindruck, dass das 21. Jahrhundert fast unter Wiederholungszwang steht. Immer mehr Begriffe wie »Volksverräter« und Ähliches finden Verwendung. Sie stammen aus dem Sprachgebrauch der extremen Rechten und sind schnell antisemitisch unterlegbar. Menschen wie Björn Höcke, der mal Geschichtslehrer war, verwenden solche rhetorischen Figuren und testen bewusst Grenzen aus. Die Grenzen des Sagbaren werden seit bestimmt zehn Jahren immer weiter verschoben, und von der Justiz wird das nicht immer konsequent bekämpft. Sie ist zwar sensibler für Tatbestände der Volksverhetzung geworden, aber wir befinden uns eben in einer Phase, die die wehrhafte Demokratie auf eine Bewährungsprobe stellt. Dieser Begriff der »wehrhaften Demokratie« wird zwar regelmäßig verwendet, aber wie man das jetzt umsetzt, ist eine wichtige Frage.
Was sollte Ihrer Meinung nach auf das Potsdamer Treffen folgen?
In Bezug auf die wehrhafte Demokratie ist die Justiz in hohem Maße gefordert. 2013 hat das IfZ ein Gutachten für das zweite NPD-Verbotsverfahren erstellt, es ging um die NPD und ihre historische Verwandtschaft mit dem Nationalsozialismus. Wir haben viel klassifiziertes Material vom Verfassungsschutz einsehen können und waren überrascht, in wie hartem ideologischen Maße diese Wesensverwandtschaft nachweisbar war. Das Bundesverfassungsgericht hat unser Gutachten und ein weiteres zu quasi 100 Prozent inhaltlich akzeptiert. Dass man danach dennoch argumentiert hat, die NPD sei zu unbedeutend für ein Verbot, habe ich für einen verheerenden Fehler gehalten. Ich verstehe es bis heute nicht: Damals war die NPD zu unbedeutend, jetzt ist die AfD inhaltlich zwar nicht weit von ihr entfernt, aber zu groß für ein Verbot – was denn jetzt? Der Verfassungsschutz sagt seit Jahren immer häufiger, dass es eine gesichert rechtsextreme und damit verfassungsfeindliche Substanz der AfD gibt. Das kann man nun natürlich 100.000 Mal sagen, aber wenn es keine Konsequenzen hat, was bringt es?
Sie sind also für ein AfD-Verbot?
Ich würde es, so gut es geht, prüfen. Allerdings hat die Erfahrung des NPD-Verbotsverfahrens gezeigt, dass es sehr hohe Hürden gibt. Dafür gibt es übrigens auch andere Beispiele: In München hat das Bayerische Oberste Landesgericht gerade vergangene Woche einen Mann freigesprochen, der behauptet hatte, dass die Impfgegner heute in einer ähnlichen Form verfolgt würden wie die Juden 1938. Er war dafür zuvor in zwei Instanzen der Volksverhetzung schuldig gesprochen worden. Das nun unter den Begriff der Meinungsfreiheit zu setzen, wie es das Oberste Landesgericht in seinem Freispruch getan hat, ist ziemlich absurd. Zu glauben, man könne sich als Gericht auf eine neutrale Gesetzesnorm zurückziehen, halte ich für einen Fehlschluss, es wird sich so oder so um ein politisches Urteil handeln. Aber natürlich ist auch die Politik herausgefordert.
Inwiefern?
In den vergangenen Jahren wurden schwere Fehler im Bereich der staatlichen Kernaufgaben gemacht, und das fällt uns jetzt brutal auf die Füße. Denken Sie an den Zustand des Gesundheitswesens oder die Versäumnisse im Wohnungsbau, um nur zwei Beispiele zu nennen. Die Rechtsextremen greifen diese Themenfelder auf, vermengen sie mit Teilwahrheiten, spitzen sie zu und verzerren sie zu Propagandainstrumenten, um die Leute in ihrer Wahrnehmungswelt abzuholen. Auch das hat schon die NSDAP gemacht.
Wie sehen Sie da das Thema Einwanderung?
Da liegt meines Erachtens ein erhebliches Politikversagen vor. Es ist ein sehr gutes Beispiel für die in Deutschland starke Ideologisierung von verschiedenen Seiten. Wir hatten eine CSU, bei der im Parteiprogramm vor gar nicht langer Zeit stand, Deutschland sei kein Einwanderungsland, Punkt, und es gab CDU-Wahlkämpfe mit Slogans wie »Kinder statt Inder«. Das ist die Nicht-Akzeptanz eines teils sogar notwendigen Einwanderungsstroms, und das ist ideologisch. Aber es gibt natürlich auch die andere Seite, die humanitäre, linke Sicht. Dort besteht manchmal die Neigung, zu sagen, wenn die Zuwanderung vieler Menschen aus anderen Kulturräumen einem Sorge macht, sei man ein Rassist oder Faschist. So haben sich die Positionen lange Zeit gegenseitig blockiert, und es ist bis heute nicht gelungen, ein konsistentes Einwanderungskonzept zu schaffen. Dass das die Leute anfällig macht für Agitation, muss man zumindest einkalkulieren.
Nochmal zur wehrhaften Demokratie. Gerade gibt es unter anderem eine Social-Media-Kampagne, um Björn Höcke die Grundrechte und damit das passive Wahlrecht zu entziehen. Was halten Sie von solchen konkreten Maßnahmen?
Ich bin skeptisch, wenn man Einzelpersonen adressiert und aus denen sozusagen Märtyrer macht. Man wird Herrn Höcke nicht davon abhalten können, im Hintergrund weiter zu wirken. Ich würde eher das Verbot einzelner Landesverbände diskutieren wollen. Wenn – wie bekannt – der ganze Landesverband Thüringen gesichert rechtsextrem ist, muss man vielleicht auch kreativ sein beim Verfassungsrecht. Als Historiker würde ich sagen: Jedes Rechtssystem hat auch eine gewisse Dynamik. Vielleicht sollte man die positive Dynamik einer wehrhaften Demokratie ernsthaft prüfen.
Die Frage ist ja auch: Wann verpasst man den Zeitpunkt, den Instrumentenkoffer einer wehrhaften Demokratie zu nutzen?
Ich befürchte ja, der ist bereits verpasst. Es ist demokratietheoretisch schwierig, eine 20- bis 30-Prozent-Partei zu verbieten. Man sollte es trotzdem prüfen.
Wie blicken Sie auf die Wahlen dieses Jahr?
Mir macht es große Sorgen, wenn die AfD in den Umfragen in Sachsen bis zu 37 Prozent erreicht. Wenn man das zum Nennwert nähme, genügt ja nur noch ein Faktor X , also, dass beispielsweise die Werteunion doch koalitionsfähig wird, oder die SPD aus dem Landtag fliegt. Ich weiß nicht, wie man damit umgehen soll. Wenn die AfD exekutive Macht erlangt, wird man das sofort spüren. Konservative Partner würden schnell desavouiert werden. Und es ist zu erwarten, dass die AfD im Falle einer Regierungsbeteiligung, etwas anderes, Radikaleres umsetzt, als das, wofür sie gewählt wurde. Auch dahinter steht eine historische Erfahrung.
Stürzen die aktuellen Entwicklungen Sie als Historiker manchmal in eine berufliche Sinnkrise?
Eine Sinnkrise habe ich nicht, aber wenn man diese Geschehnisse intensiv verfolgt, empfindet man doch ein starkes Gefühl der Ohnmacht.
Gerade nach Ereignissen wie dem NPD-Verbotsverfahren?
Da hing nicht meine Glückseligkeit dran. Aber ich fand das politisch und auch intellektuell verheerend. Wenn man heute eine verfassungsrechtlich gesetzte Norm für ein Parteienverbot hätte, könnte man nicht unbedingt einfach die AfD verbieten, das nicht. Aber die Norm selbst würde eine Wirkung ausüben in dem Sinne, dass Parteien wissen: Bis hierher und nicht weiter. Insgesamt hat man einfach den Eindruck, dass die Lehren des 20. Jahrhunderts, was den Verlust der Demokratie betrifft, nicht mehr die Rolle spielen, die sie spielen sollten. Das kann einen schon deprimieren.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat vor wenigen Tagen gesagt, ihm mache es Mut, wie viele Menschen nun auf die Straße gehen. Ihnen auch?
In der Vergangenheit haben solche Demonstrationen Wirkung gezeigt, denken Sie an die Lichterketten Ende 1992 gegen rassistische Gewalt. Davon ging ein deutliches Zeichen aus, das nicht zuletzt auch im Ausland wahrgenommen wurde. Insofern finde ich es schon gut, wenn da jetzt demonstriert wird, zumal es zeigt: Es geht auch um die, wenn’s sein muss kämpferische, Besetzung des öffentlichen Raumes. Und es ist eine Rückkopplung in den politischen Raum, die hilft, die Lähmung zu überwinden. Ob es das ersehnte Allheilmittel ist, wage ich zu bezweifeln. Man kann Menschen nicht dauerhaft für positive Dinge mobilisieren – das hört irgendwann wieder auf. Die Kräfte, die gegen Bestehendes demonstrieren, sind zwar meistens kleiner, aber leichter mobilisierbar. Aber ich habe auch das Vertrauen in eine lebendige Demokratie, dass sie neue Kräfte entwickelt. Die Zukunft ist offen, und man muss aufpassen, dass man keinen historischen Determinismus einbaut, der seine Vorbilder nur aus der Vergangenheit nimmt und damit die Gegenwart lähmt.