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Urlaub in Utopia

Im Grandhotel Augsburg wohnen Flüchtlinge und normale Hotelgäste gemeinsam. Wer dort übernachtet, bringt mehr als nur die Probierpackung Seife mit nach Hause.
„Warum hast du so was?“ Das kleine Mädchen steht im Rosengarten hinter dem Eingangstor und schaut mit großen Augen auf den schwarzen Rollkoffer, der bis an seine Schulter reicht. Bevor man diese Frage beantworten kann, schnappt es sich den Griff und zieht den Koffer Richtung Hotel. Lia kennt sich aus, sie hat hier gewohnt, aber für sie sind Rollkoffer immer noch eine sonderbare Erscheinung, selbst wenn sie seit Monaten fast jeden begrüßt, der ins „Grandhotel Cosmopolis“ kommt. Dass dies kein Hotel wie jedes andere ist, zeigt sich nicht nur an der kleinen Dame, deren Eltern das Hotel mit aufgebaut haben, sondern gleich am Eingang. An der Glastür hängt ein Schild: „Betreten der Baustelle geboten“, und die Uhren über der pastellgrünen Bar dahinter ticken im wahrsten Wortsinn anders: Statt der aktuellen Zeit in New York und Paris zeigen sie, wie spät es in Lampedusa und anderen Flüchtlingskrisenherden der Welt ist. Ringsherum hängen Fotos verlassener Grenzposten, und im Zeitungsständer liegt das Flüchtlingsmagazin „Heimfocus“. Es ist der Eingang zu einem Hotel, in dem sich Menschen treffen, die die Welt verändern wollen.

Zuhause im Ehrenamt

Zwei Jahre ist es her, da entstand hier im Springergässchen 5 des Augsburger Domviertels der Plan für eine Utopie. Das einstige Altenheim im Paul-Gerhardt-Haus stand leer, ein paar Künstler suchten Räume, und die Regierung des Bezirks Schwaben hatte zu wenige Asylbewerber-Unterkünfte. „Warum nicht alles unter einem Dach?“, fragten sich Georg Heber und andere, und so wurde die Idee zu einem Haus geboren, in dem Asylbewerber, Künstler und Hotelgäste miteinander leben.
Für das, was sie gern „eine soziale Skulptur in Augsburgs Herzen“ nennen, wählten die Initiatoren zwei Referenzen: „Grandhotel“ erinnert an die große Kultur der alten Hotels als Orte der Zusammenkunft und will sagen, dass man Flüchtlinge wie Gäste willkommen heißen sollte. „Cosmopolis“ bedeutet, dass hier jeder, der möchte, eine Heimat auf Zeit haben kann, unabhängig von seiner Herkunft und seinem Geldbeutel. Etliche Verhandlungen, 370 000 Euro Spendenund offizielle Baugelder und rund 100 000 freiwillige Arbeitsstunden später ist es so weit: Seit dem 15. Juli ist das „Grandhotel“ genehmigt, Ende des Monats zogen die ersten Asylbewerber ein, und von Oktober an können Menschen „ohne Asyl“, wie Übernachtungsgäste hier heißen, ein Zimmer buchen.
Bei unserer Ankunft ist es Mittag. Im Rosengarten hinter dem Bau aus den sechziger Jahren ist Probe, alle schauen gebannt auf die Balkone des Hotels, wo heute Abend Theater gespielt werden soll. „Hallo“, flüstert ein junger Mann mit Bart, Georg Heber, Mitinitiator, wie sich später herausstellt. „Schön, dass du da bist – wer warst du noch mal?“ Wo der Zimmerschlüssel ist, wissen gerade weder er noch sein Kollege, also geht es durch den Garten, vorbei am Schild „In Utopia we trust“ über Holzleisten und Eimer ins Büro im ersten Stock. Dort arbeiten Georg Heber und mehr als vierzig andere seit zwei Jahren ehrenamtlich für das Hotel. In der Buchhaltung, bei der Pressebetreuung, in der Terminkoordination mit den Ämtern verfolgen sie ihr Ziel: ein funktionierendes Hotel auf sechs Stockwerken und rund 2600 Quadratmetern.

Überzeugungstäter

In der zweiten, dritten und vierten Etage sind Zimmer für insgesamt 60 „Gäste mit Asyl“ geplant, Asylbewerber, für die die Regierung Schwaben Miete zahlt und Essenspakete liefert. Auf den unteren fünf Geschossen sind dreizehn Ateliers untergebracht für Künstler, die am Hotel mitarbeiten, dazu Räume für die Flüchtlingsorganisation „Tür an Tür“. Im Souterrain entsteht ein Restaurant, im sechsten Stock eine Galerie und auf drei Etagen Zimmer für „Gäste ohne Asyl“, alle von unterschiedlichen Künstlern gestaltet. Die Gäste zahlen für diese Zimmer so viel sie möchten – vorerst jedenfalls. So sollen die Kosten für den Rest des Projekts gedeckt werden.
Eines der fertigen Zimmer ist die „Grande Dame“, es liegt im fünften Stock, und als der Schlüssel gefunden ist, wartet hinter der lachsroten Tür eine Überraschung. Der Raum könnte in irgendeinem neueren Designhotel in Kopenhagen, Wien oder Berlin sein. „Betongrau“ hat die Künstlerin Esther Irina Pschibul über ein Bett mit goldenem Bezug geschrieben, daneben steht ein Sekretär aus den sechziger Jahren und ein Nierentisch. An der Wand hängt ein Bilderrahmen ohne Bild, neben dem Bett ein MP3-Anschluss für das mehrere Jahrzehnte alte Radio. Nur die vanillefarbenen Kacheln um das Waschbecken verraten, dass hier nicht immer eine Hipsterheimat war, sondern einst alte, pflegebedürftige Menschen auf die Altstadt Augsburgs schauten.
Der Weg vom Altenheim zum sozialen Hotel mit Kunstkonzept ist kein leichter. Selbst in einer so zivilisierten Stadt wie Augsburg, die eine geradezu historische Verpflichtung zum Altruismus hat: Nur wenige Gehminuten durch die Gassen der Altstadt entfernt liegt die Fuggerei, die älteste existierende Sozialsiedlung der Welt. Noch heute kostet die Jahreskaltmiete für eine Wohnung in dieser kleinen Stadt in der Stadt den nominellen Gegenwert eines Rheinischen Gulden, derzeit 88 Cent – und täglich drei Gebete für Jakob Fugger den Reichen und seine Familie, der 1521 die Anlage gestiftet hat. Allerdings dürfen nur unverschuldet in Not geratene Augsburger katholischer Konfession einen Antrag stellen – was das soziale Projekt auch 500 Jahre später noch nicht zu einem lupenreinen Zeugnis für Toleranz macht. Da gibt es erst seit 1650 etwas zu feiern in Augsburg, dafür aber nur hier und als Feiertag im Gesetz, immer am 8. August: das „Hohe Friedensfest“, mit dem die Augsburger Protestanten das 1648 durch den Westfälischen Frieden eingeleitete Ende ihrer Unterdrückung während des Dreißigjährigen Krieges begehen.
Beim „Grandhotel“ waren vor allem die Nachbarn anfangs misstrauisch, bei den ersten Infoveranstaltungen waren fremdenfeindliche Äußerungen zu hören. Auch die staatlichen Einrichtungen standen dem Konzept „Alle unter einem Dach“ skeptisch gegenüber. Geändert hat sich das schrittweise, als die Diakonie im Herbst 2011 probeweise den Schlüssel übergab und sah, dass es funktionierte, als die Stadt 2012 den Umbau erlaubte, und zuletzt, als im Juli die Feuerwehr und das Bauamt das Gebäude abnickten.

Flüchtlingsalltag

Sie hätten kaum anders gekonnt, denn auf ihrem Weg hatten Georg Heber und seine Mitstreiter längst große und kleine Unterstützer gesammelt. Wenn sie jemanden brauchen, der ihnen einen Holzboden in eines der Zimmer legt, rufen sie einen Schreiner an, das Frühstück für die Arbeitenden schenkt ihnen eine örtliche Bäckerei. Der Bayerische Rundfunk hat dem „Grandhotel“ den „Miteinander-Preis“ verliehen, Bands geben hier Benefizkonzerte, und Politiker wie Claudia Roth zeigen sich auf der Baustelle.
Noch ist das Hotel eine sonderbare Mischung aus Baumarktprovisorium und Abenteuerspielplatz. Den Treppenaufgang schmückt ein gemaltes Pferd, im Seitengang steht eine Spielküche, im ersten Stock ein altes Trainingsfahrrad. Wenige Meter weiter eine gut sortierte Bibliothek. Die Kinder der ersten drei tschetschenischen Familien, die seit einer Woche im „Grandhotel“ wohnen, sausen durch das Treppenhaus, Mütter mit bunten Kopftüchern hinterher. An einer Tür hängt eine Bestellliste für Lebensmittellieferungen, und fast immer spielt jemand auf einem der vielen Klaviere im Haus. Was noch Baustelle ist, was fertig ist und was schon Kunst, ist selten eindeutig zu unterscheiden. Mit Kunst beschäftigen sich die meisten: Im Erdgeschoss verwandelt der Afghane Sayed Adi Bahrami ein Zimmer in eine Lehmhütte, und in der Mitarbeiterküche nebenan erzählt Makbula Afacan, die eigentlich ein Atelier hat, von ihrer täglichen Küchenarbeit. Als Gast ist es unmöglich, sich aus dieser charmanten Mischpoke herauszuhalten. Keine vierundzwanzig Stunden nach der Ankunft ist man mittendrin: Eine junge Frau lädt einen spontan ein, zu einer Podiumsdiskussion mit einer Femen-Aktivistin mitzukommen.
Da ist der IT-Student, der das Netzwerk programmiert, die junge Alleinerziehende und der Mittvierziger, der nach zwanzig Jahren Büroalltag einfach mal Lust auf etwas anderes hatte. Jeder von ihnen macht das, was er am besten kann. Sie alle trägt die Vorstellung, „dass etwas anders laufen muss“, wie es die Sprecherin Eva Pörnbacher zusammenfasst, und das nicht nur in der Flüchtlingspolitik.

Wer den Beweis für die These sucht, dass sich Menschen heute nicht weniger, aber lieber projektbezogen engagieren, hier wäre er.

Entscheidungen treffen immer die, die gerade da sind, die große Linie wird einmal die Woche im Plenum besprochen. Wer ein Beispiel für die vielzitierte These sucht, dass sich Menschen heute nicht weniger, aber lieber projekt-bezogen engagieren, hier wäre er. Einer der Hoteliers erzählt, dass er zwar einen „Nebenjob zum Leben“ habe, aber am liebsten dauernd hier wäre.
Bis alles fertig ist, gibt es noch einiges zu tun. Nachts rüttelt schon mal jemand an der Tür, der sich im Zimmer geirrt hat, weil das Licht nicht geht, und bis jetzt gibt es kein Frühstück und in den oberen Stockwerken noch keine warmen Duschen. Das Restaurant, in dem es ein günstiges regional-biologisches Tagesgericht geben soll, hat noch nicht geöffnet. Aber wo kann man schon in einer Mischung aus Abi-Party, StudentenWG und Hotel gewordener Bar übernachten, in der alternative Weltentwürfe nicht nur diskutiert, sondern ausprobiert werden?
Es ist Abend im „Grandhotel“, die Schauspieler des Stadttheaters, die vorhin geprobt haben, stehen auf den Balkonen über dem Rosengarten. Sie singen die Gezi-Park-Hymne und feministische Lieder, kritisieren die NSA.
In Momenten wie diesen wäre es ein Leichtes, sich über Linke mit langen Haaren lustig zu machen, die von einer besseren Welt träumen. Das „Grandhotel“ zeigt, dass Augsburg den Titel „Kaff der guten Hoffnung“ verdient hat, den der im Hotel engagierte Künstler Reinhard Gammel der Fuggerstadt gegeben hat, die in ihrer über zweitausend Jahre alten Geschichte und – anders als München, wie der Augsburger sagen würde – noch nie Provinz war: Mit 270 000 Einwohnern, 18 000 Studenten und 40 Prozent Migranten ist hier Raum für Fragen, die weit über die Stadt hinaus relevant sind: „Wie wäre es, wenn Flüchtlinge normaler Bestandteil der Gesellschaft wären?“ zum Beispiel. Ein Hotel revolutioniert nicht die Gesellschaft. Aber es macht etwas mit seinen Besuchern. Man denkt nach, wie es wäre, selbst eine Heimat auf Zeit zu brauchen, und was man tun könnte, außer seine Unterschrift unter die Liste für die tschetschenische Familie zu setzen, die nach Polen abgeschoben werden soll. Und man nimmt statt Shampoo-Miniaturen Ideen mit nach Hause und ein wenig Optimismus, ganz dem Motto entsprechend, das auf dem Banner an den Hotelbalkonen prangt: „A lot of things are actually going pretty well.“

Der Weg nach Augsburg

Anreise
Mit der Bahn zum Augsburger Hauptbahnhof, von dort sind es 20 Gehminuten zum Dom, Bus und Taxi sind schneller.
Übernachtung
im „Grandhotel Cosmopolis“: Im Hostelzimmer im Stockbett oder in einem der von Künstlern gestalteten Designzimmer, Kosten jeweils nach eigenem Ermessen und finanziellem Spielraum. Buchung über die Website www.grandhotelcosmopolis.wordpress.com. Unweit des „Grandhotels“ liegt auch der „Augsburger Hof“, ein Romantikhotel mit guter Küche, Zimmer ab 80 Euro.
Weitere Attraktionen der Stadt
sind die Fuggerei (siehe Foto oben), die älteste Sozialsiedlung der Welt, wo ein Haus mit ursprünglicher Einrichtung besichtigt werden kann; der Perlachturm aus dem 10. Jahrhundert gleich neben dem Rathaus, von dessen Aussichtsplattform man einen herrlichen Blick über die Stadt hat, und die prachtvolle Synagoge mit dem Jüdischen Kulturmuseum Augsburg-Schwaben in der Halderstraße. (Weitere Infos unter www.augsburg-tourismus.de)

Lea Hampel