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Ein frohes neues Ja

An Schabbat soll keiner allein sein. Deshalb lädt Rabbi Machlis in Jerusalem alle zu sich nach Hause ein – auch Touristen und Unbekannte.

Es ist ein Ritual, aber es ist immer wieder neu. Und alle kommen, immer wieder, in dieses Wohnzimmer in der orthodoxen Nachbarschaft Ma’alot Dafna, wo sich jeden Freitag Touristen und Bettler, Juden und Christen, Neuankömmlinge und Gemeindemitglieder treffen – auf Plastikstühlen, mit Limonade und Gefilte Fisch, begehen sie gemeinsam auf sehr weltliche Weise den heiligen Tag des Judentums.

Soeben ist ein Herr von etwa fünfzig Jahren von seinem Plastikstuhl aufgestanden. Er ruft auf Englisch: „Jesus war sein Sohn! Er war es!“ Seit Jahrhunderten wird der Stadt nachgesagt, dass sich hier die Verrückten treffen. Rabbi Machlis steht zwei Tische weiter. Kurz schließt er seine Augen hinter den dicken Brillengläsern und unterbricht seine Rede. Er kennt diesen Gast schon, der von seinen Tischnachbarn auf den Plastikstuhl zurückgezogen und mit einigen „Schs“ aus allen Enden des Wohnzimmers zur Ordnung gerufen wird. Dann öffnet der Rabbi die Augen und setzt mit ruhiger Stimme seine Rede fort; es geht um die Bindung zwischen Gott und dem Volk Israel.

Draußen ist Jerusalem – der verrückte Alltag zwischen Klagemauer, Grabeskirche und al-Aqsa-Moschee, den wichtigsten Heiligtümern der drei Weltreligionen. Untermalt von einer Geräuschkulisse aus brüllenden Bauarbeitern, die seit zwanzig Jahren versuchen, eine Straßenbahn entlang der Hauptstraße zu bauen, und Autohupen, die bei jeder Gelegenheit eingesetzt werden, eilen orthodoxe Juden mit Schläfenlocken vorbei an koreanischen Christen, die in der Fußgängerzone singen und glauben, je mehr von ihnen im Heiligen Land seien, umso schneller komme der Messias. An ihnen vorbei ziehen Touristen, stets in der Angst, ihre Gruppe zu verlieren, und verwirrt von der Erkenntnis, dass es in der heiligsten aller Städte auch Burgerrestaurants und irische Pubs gibt.

All diese Menschen an einem Tisch? Schwer vorstellbar. Doch seit über dreißig Jahren wagt Rabbi Machlis dieses Experiment. Jeden Freitagabend begeht er in seinem Wohnzimmer den heiligsten jüdischen Feiertag mit jedem, der möchte. Die Menschen sind so unterschiedlich wie ihre Motive, zu kommen. Viele sind neugierig, andere gläubig, viele auch einfach hungrig. Das Essen ist kostenlos, und nach jüdischer Vorstellung soll niemand alleine sein an Schabbat. Schon eine Stunde vorher warten vor dem Haus der Familie Machlis im religiösen Stadtteil Ma’alot Dafna die ersten Gäste. Es ist eines der Reihenhäuser aus Sandstein, wie sie in jedem der jüdisch-orthodoxen Stadtteile stehen, und von den Nachbarhäusern unterscheidet es sich nur durch die Nummer – Straßennamen gibt es nicht – und die Vorgartenbepflanzung. Dennoch ist es aus mehreren hundert Metern Entfernung zu orten, am Summen der Stimmen der Wartenden, die um ein Flüstern bemüht sind, aber durch die schiere Menge doch unüberhörbar werden in der merkwürdigen Ruhe des Schabbatabends. Im Neonlicht der Straßenbeleuchtung diskutieren gerade ein junger Österreicher und eine deutsche Studentin darüber, ob das Judentum rein religiös zu definieren sei. Daneben erklären zwei ältere Herren in Anzügen zwei schwedischen Touristinnen, dass jede Woche ein Zettel an der Haustür der Familie ankündigt, wann diese Woche das Essen beginnt.

Alle sind etwas unruhig, wollen nah am Eingang sein und trotzdem Respekt zeigen. Schließlich, um kurz vor neun, öffnet sich die Holztür. „Bruchim Habaim“, „Herzlich willkommen“, ruft der Mann im schwarzen Anzug. Wie ein Pfarrer vor der Kirche nimmt Rabbi Machlis Aufstellung neben seiner Tür, um jeden seiner Gäste zu begrüßen, die Männer mit Handschlag, die Frauen ohne, wie im orthodoxen Judentum üblich.

Etwa 150 Mal nickt Rabbi Machlis freundlich. Etwa 150 Paar Füße trippeln in das Wohnzimmer, die Besucher verteilen sich an die zehn Plastiktische, die das Wohnzimmer ausfüllen und bis in den Wintergarten reichen. Die besten Plätze–nahanderKücheundnaham Tisch, an dem der Rabbi sitzen wird – sind schnell weg. Besetzt von Routiniers, die seit Jahren herkommen, um zu beten und zu essen. Die Vielfalt der Gäste zeigt sich in der Vielfalt der Kopfbedeckungen, die die Männer gewählt haben, um dem Gebot, Gott Respekt zu zollen, Rechnung zu tragen. Unter den deckenhohen Regalen mit religiösen Büchern sitzt der Künstler mit Schlangenmusterhut neben dem Rentner mit Schirmmütze. Ihnen gegenüber der junge Amerikaner mit der Samtkippa, daneben der angehende Konvertit, der hier erste jüdische Gehversuche unternimmt und seine Strickkippa mit einer Haarklammer befestigt hat.

Zwischen ihnen: junge Amerikanerinnen, die in Jerusalem studieren oder auf einer Zehn-Tages-Reise durchs heilige Land ihre jüdischen Wurzeln erkunden und für die ein Schabbatdinner in Jerusalem die „ultimative experience“ ist, vor allem auch, weil es hier viele junge jüdische Männer im heiratsfähigen Alter gibt. Aufmerksame Blicke und viel Make-up, mitten in einem orthodoxen Haus, sind daher Teil der Szenerie, und trotz aller gebotenen Züchtigkeit sitzen die knielangen schwarzen Röcke dann doch gerne etwas enger.

Dass diese Mischung aus Suppenküche, religiösem Theater und Gruppendate nicht explodiert, verdankt sich der Tradition jüdischer Gastfreundlichkeit. Der älteste Sohn hat über die Jahre die Rolle des Zeremonienmeisters erlernt. Behende eilt er zwischen den Tischen hin und her, besorgt Plätze und Stühle für Zuspätkommer, auch wenn das Wohnzimmer längst nur noch quadratzentimetergroße Eckchen freien Bodens zu haben scheint und im Wintergarten die Scheiben beschlagen. Hebt die illustre Gruppe zum ersten gesungenen Segen an, klatscht er den Takt und schickt aufmunternde „Hej“-Rufe in die Runde. Unterdessen sorgt Mutter Henny dafür, dass auf allen zehn Tischen recht

zeitig das traditionelle Challahbrot ankommt, jeder eine Scheibe Gefilte Fisch bekommt und auch genügend vom Kugel, dem traditionellen Nudelauflauf, für alle Gäste da ist. Damit dabei die Tische nicht unter der Last der etwa sieben Gänge zusammenbrechen, bringt der Sohn immer wieder – gemeinsam mit den religiösen Schülern des Rabbis – Mülltüten, in die all das Plastikgeschirr geworfen wird, weil an Schabbat nicht abgewaschen werden darf und das bei dieser Menge Geschirr ohnehin nicht möglich wäre.

Zwischen den Gängen und den Liedern spricht immer wieder der Rabbi. Es ist fast schon eine Predigt, doch die Menschen hören kaum zu, wenn er erklärt, wie wichtig es ist, im täglichen Leben ein offenes Ohr für den Nächsten zu behalten. Zu viel gibt es zu sehen, zu hungrig halten manche von ihnen Ausschau nach dem nächsten Gang.

Bei den gesungenen Gebeten versuchen dennoch selbst die, die nicht Hebräisch sprechen, mitzusummen, aus Respekt und auch, weil vor allem Touristen und Neuankömmlinge kaum wissen, wie sie sich verhalten sollen. Kleine Gebetbücher, in denen die Liedtexte in lateinischen Buchstaben geschrieben sind, liegen auf jedem Tisch. Immer wieder muss Rabbi Machlis seine abwechselnd auf Deutsch und Englisch gehaltene Rede unterbrechen, weil Gäste ungeduldig nach mehr Brot oder Suppe fragen. Und weil andere Besucher ihre Botschaft loswerden wollen, so wie der ältere Herr, der darüber verzweifelt, dass Jesus hier kein Gehör findet. „Hier geht es immer so zu, der Rabbi ist halt ein gütiger Mann“, sagt Bryan, ein religiöser Student, der seit einigen Monaten jeden Freitag in Ma’alot Dafna Schabbat begeht, weil er für ein halbes Jahr zum Lernen nach Jerusalem gekommen ist und die quirlige Atmosphäre im Hause Machlis genießt. Außerdem, fügt sein Mitschüler Paul an, der heute mitgekommen ist, um sich das „Spektakel“, von dem Bryan jede Woche erzählt, anzuschauen, „ist das Essen ja ganz gut“. Er isst gerade den Kugel, traditionellen koscheren, leicht süßen Nudelauflauf, der nach einigen Tabletts, die vom Nachbartisch abgegriffen wurden, nun auch hier, im hinteren Ende des Raumes angekommen ist.

Viertel nach elf werden ein letztes Mal die Plastikteller und -gabeln eingesammelt, statt über Gott und Israel zu reden, spricht der Rabbi nun von der Ruhe in Ma’alot Dafna und bittet die Gäste, nicht vor der Haustür stehen zu bleiben, sondern direkt die Nachbarschaft zu verlassen. Der alte Jesusfreund und einige der Herren von seinem Tisch machen sich auf den Weg in eines der Lokale in der Innenstadt, die trotz Schabbat geöffnet haben. Und die jungen Damen mit den züchtigunzüchtigen Röcken gehen auf einen Abendspaziergang mit ihren Tischnachbarn. Das „Balagan“, „Chaos“, wie man so schön auf Hebräisch sagt, ist vorbei. Und der Besucher? Der weiß jetzt vielleicht nicht, wie das ideale Schabbatessen abläuft. Aber dafür, was Jerusalem ausmacht.

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Ressort Reise, Ausgabe 35/5.September 2010; ausgezeichnet mit dem Andere-Zeiten-Journalistenpreis 2010.

Lea Hampel