Text • Tagesspiegel

Besinnung unterm Olivenbaum

In Nazareth beginnt der neue „Jesustrail“. 65 Kilometer lang ist der Wanderpfad durch Israel, jenseits von Kirchen, Klagemauer und Kreuzweg

Wahrscheinlich geht es den meisten, die sich diese Strecke vorgenommen haben, wie Linda Hallel. Die Mittvierzigerin mit dem Holzkreuz um den Hals steht schmunzelnd in den sandsteinfarbenen Gassen von Nazareths Altstadt. Es ist ein sonniger Morgen im März, sie betrachtet eine Gruppe Rentner. In ordentliches Beige gekleidet, haben sie Aufstellung genommen hinter einer Dame, die zur Erkennung einen roten Regenschirm in die Luft streckt. Eine Pilgergruppe, wie sie im Heiligen Land in Jerusalem, Betlehem und Tiberias täglich unterwegs sind. Laut ruft die Dame: „Jetzt gehen wir zu den Ruinen von Josephs Werkstatt und danach zum Brunnen der Maria. Und los!“ Die Rentner ziehen weiter.

„So, und wir machen das Gegenprogramm“, sagt Linda fröhlich und stapft los – in die andere Richtung, auf den Weg zur Bushaltestelle, zur Natur, zur dritten Tagestour des auf fünf Tage angelegten Jesustrails. Linda, 44 Jahre alt und lange graue Haare, gebräunt von ihrer Arbeit als Tourguide auf dem Jesustrail, wird ernst: „Ich bin nicht in dieses Land gekommen, um Kirchen anzuschauen.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich bin gekommen, um meinen Fuß da zu haben, wo es passiert ist.“ Es, das ist für sie die Geschichte Jesu Christi.

Jesustrail 3

„Er verließ Nazaret, um in Kafarnaum zu wohnen, das am See liegt, im Gebiet von Sebulon und Naftali.“ So steht es im Matthäusevangelium. So haben es hunderte Gläubige nachgelesen, die nach Israel gekommen sind. Auch Linda kam vor zwei Jahren, um jenseits von Reisebussen und Anstehen in Kirchen das heilige Land zu entdecken. Ein Bedürfnis, das viele Israelreisende haben, und das Maoz Inon und David Landis zu stillen versuchen. Der jüdische Betreiber des Nazarether Gästehauses „Fauzi Azar“ und sein christlicher Freund aus Amerika haben vor drei Jahren begonnen, eine Route zu planen, die es Reisenden ermöglichen soll, die Besonderheit des Landes jenseits des Massentourismus zu erkunden. Eine Wanderstrecke, die den Spuren Jesu von Nazareth nach Kapernaum folgt, 65 Kilometer, zu absolvieren in fünf Tagen oder abschnittsweise, mit oder ohne Übernachtungspauschale, alleine oder mit einem Tourguide wie Linda.

Während Linda zur Bushaltestelle läuft, nimmt Nazareth seinen morgendlichen Betrieb auf. Der arabisch-christliche Ort lebt von Touristen. Souvenirläden, Falafelstände und Tuchhändler füllen die Altstadt. Bis der Bus kommt, dauert es eine Weile. Auch das gehört zum Land.

Unterwegs ist schon ein Stück des Jesustrails zu sehen, er führt oberhalb der Straße an einer Hügelkette entlang, und just an der Stelle, wo er die Straßen unterquert, ist es an der Zeit, auszusteigen. Die erste Wegmarkierung, zwei weiße Streifen mit einem orangefarbenen in der Mitte, ist am Straßenrand zu sehen, und los geht es Richtung Nordosten, mitten hinein in ein grünes Feld, über Disteln und Plastiktüten.

Die erste Stunde führt über Feldwege, links stehen Olivenbäume, rechts weiden Pferde. Am Horizont erscheint der Ort Kana, sandfarbene, zweistöckige Häuser, gedrängt an einem Hang. Es ist der Endpunkt des zweiten Tages auf dem Trail, erwähnt schon bei Johannes. „Am dritten Tag fand in Kana in Galiläa eine Hochzeit statt, und die Mutter Jesu war dabei. Auch Jesus und seine Jünger waren zur Hochzeit eingeladen.“ Grundlage der Strecke ist die Bibel.

Jesustrail 2a

„Ungefähr hier, wo wir schwitzen, müsste Jesus gewandelt sein“, sagt Linda. Erarbeitet haben die Strecke ihre Chefs Inon und Landis. „Wir sind so nah wie möglich an der Strecke Jesu geblieben und haben gleichzeitig so viele Sehenswürdigkeiten wie möglich integriert“, erzählt Landis. Ein Weg für Christen, aber auch für Juden, Muslime und kulturell oder historisch Interessierte soll es sein. Die erste Station ist eine Straße, die einst die Römer gebaut haben.

Hier, auf den 2000 Jahre alten Steinen, klingelt Lindas Handy zum ersten Mal. Etwa alle halbe Stunde wird das so gehen, den ganzen Tag. „Thanks for calling Jesustrail. How can I help you?“ Linda bleibt stehen, blickt zurück zur Bushaltestelle und ruft: „Ihr müsst rechts abbiegen.“ Das Servicetelefon ist Teil des Konzepts. Wandern mit Anleitung. Es gibt kostenlose Karten, eine GPS-Route, auf der biblische Orte genauso wie Bankautomaten verzeichnet sind. Wer nicht mehr kann, wird abgeholt.

Jesustrail 2

Das passiert häufig nach den „Hörnern von Hattin“, die als nächste Sehenswürdigkeit auf dem Plan stehen. Ein mittelhoher Berg, an dessen Fuß ein Stein steht, der auf die biblische Bedeutung hinweist. „Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie.“ So heißt es bei Matthäus, und manche glauben, dass hier die Bergpredigt stattfand. „In meiner Bibel steht das anders“, sagt Wanderführerin Linda in einer Verschnaufpause während des Anstiegs. Sie schmunzelt. Oft hat sie Diskussionen mit Wanderern, die fragen, ob Jesus genau über diese oder jene Wiese gelaufen sei. Auf religiöse Exaktheit legte Jesustrail-Begründer Landis jedoch nicht den größten Wert. „Letztendlich kommt es uns auf die Menschen an, die man trifft.“ Wie das alte Paar, das bereits zum Picknick auf den Hörnern von Hattin sitzt. Seit vielen Jahren kommen die beiden aus der Nähe von Beersheva auf den Berg, weil hier Blumen wachsen, die es nirgends sonst in Israel gibt. Mit einem Bestimmungsbuch in der Hand sitzen sie unter einem Olivenbaum, von dem aus der Blick auf den See Genezareth besonders schön ist.

Keine eineinhalb Stunden von Tel Aviv entfernt sieht es hier im Frühjahr ein wenig aus wie in den schottischen Highlands oder den Ausläufern des Voralpenlandes. Die Realität – ein Land im permanenten Ausnahmezustand – bleibt trotzdem präsent. „Hast du das gehört?“, fragt Linda. Von den nicht weit entfernten Golanhöhen sind explosionsartige Geräusche zu vernehmen.

Von hier oben ist auch der letzte Anstieg schon zu erkennen, den es zu bewältigen gilt. Davor geht es durch ein vom Regen der letzten Wochen verschlammtes Tal. Es wird anstrengend. „Heftig wird es aber erst im Sommer“, sagt Linda. Bis zu 45 Grad heiß wird es, für die vielen älteren Wanderer ein Problem.

Jesustrail 1

Besonders wohl fühlt sich Linda in Arbel, einer Landwirtschaftssiedlung, der Endstation des dritten Tages. „Hier ankommen ist wie nach Hause kommen“, sagt Linda. Geführt wird das Gästehaus von einem älteren Ehepaar, Israel und Sara Shavit. Sara, klein und rundlich, steht in der Tür: „Baruch Ha Shem, Gott sei Dank, da seid ihr.“ Ihr Mann hat schon die hausgemachte Linsensuppe in Tonschüsseln bereitgestellt, während sie die Familiengeschichte erzählt, von dem Aufenthalt der Eltern im Internierungslager auf Zypern, wo viele Juden nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Möglichkeit warteten, nach Palästina auszureisen, von der Überfahrt ins Heilige Land auf einem illegalen Frachter, von der Hochzeit im Kibbutz. Seit 20 Jahren betreiben sie die Pension. Er kocht, sie kümmert sich um die „Zimmerim“, wie das aus dem Deutschen stammende Wort für Ferienräume auf Hebräisch heißt. Das Prinzip Wandern ist ihr ein wenig unverständlich. Dass aber wegen Jesus mehr Menschen kommen, gefällt ihr: „Jeder glaubt das Seine“, sagt sie und schmunzelt. „Dafür gibt’s hier Brownies wie im Himmel“, fügt sie mit einem Seitenblick auf ihren Ehemann an, der das Dessert auf den Tisch stellt.

Im Gegenteil – je mehr Gäste kommen, desto besser. Seit es ein Onlineforum gibt, Aushänge und Prospekte in Touristeninfos, hat die Zahl der Gäste bei Familie Shavit zugenommen. 400 kleinere Gruppen waren seit Jahresanfang auf dem Trail bereits unterwegs, viele Deutsche und Amerikaner. Angst, dass die Sache zu groß wird, haben die Trailbegründer nicht. Denn eines soll die Sache bleiben: ein Gegenprogramm. Eine Möglichkeit, das Land in seiner Vielfalt zu zeigen, jenseits von Klagemauer, Grabeskirche und Tel Aviver Strand. Dazu gehört wohl auch, dass der Linienbus zurück eineinhalb Stunden später kommt – und voller junger Soldaten ist.

Erschienen im Tagesspiegel, Ressort Reise, in Ausgabe 20572 am 28. März 2010. 

 

 

 

Lea Hampel